Mentale Gesundheit im Studium: Eine Sprechstunde auf Augenhöhe

Ein Studium ist längst keine Einhorn-Glitzer-Party mehr, sondern eine belastende Phase für die mentale Gesundheit. Wie du trotz Stress im Studium gut für dich sorgst.

Junge Person liegt erschöpft mit Kaffee und Lerunterlagen des Studiums auf dem Bett.
Es ist okay, sich überfordert zu fühlen.

Das aktuelle Semester neigt sich langsam dem Ende und es könnte so schön sein, wären da nicht fünf anstehenden Prüfungen, vier Hausarbeiten und die folgenden Sätze auf der nächsten Familienfeier: »Belastet? Wegen ein paar Klausuren?« oder: »Also für mich war das Studium die beste Zeit meines Lebens« oder noch schlimmer: »Ihr seid viel zu weich geworden, nichts könnt ihr mehr ab!«. Solche Sätze tun nicht nur weh, sondern schlagen mit voller Wucht dort ein, wo sich Selbstzweifel und Versagensangst die Hände reichen. Dabei sind solche typischen Sprüche immer eines – absoluter Bullshit. Denn: Wenn man studiert, ist man überdurchschnittlich häufig von psychischen Belastungen betroffen – und das war bereits vor Corona schon so (Giesselbach et al., 2023; Grützmacher et al., 2018; Hapke, Cohrdes & Nübel, 2019).

Ja, ein Studium ist schon lange keine »Einhornglitzer-Party-Zeit« mehr. Ein Studium bedeutet: prekäre und unsichere Lebensumstände, nicht aufhörender Leistungsdruck und eine ausgeprägte Armutsgefährdung. Betrachtet man nun zusätzlich noch die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie und die individuellen Lebensumstände von Studierenden (Erstakademiker*in, Kinderbetreuung, familiäre Betreuungspflichten, chronische Erkrankungen, Behinderungen) wird mir übel. Wie übel zeigen die Ergebnisse des aktuellen Gesundheitsreports der Techniker Krankenkasse (2023): Der Anteil der Studierenden, die Antidepressiva verordnet bekommen haben, ist innerhalb von drei Jahren (2019 – 2022) um 30 % gestiegen; unter Schlafmangel leiden 43 % der befragten Studierenden; 37 % fühlen sich stark emotional erschöpft (2017: 25 %).

Es geht hier nicht um Schwarzmalerei. Es geht um diesen Punkt: Wenn ihr euch psychisch besonders belastet fühlt, ist das kein Zeichen von Schwäche, weil ihr »nichts mehr abkönnt« und dem »Druck nicht standhaltet.« Es ist ein Zeichen dafür, dass das aktuelle Hochschulsystem aufgrund der Prüfungsdichte, des immensen Umfangs, fehlendem Gesundheitsmanagement und des ständigen Zeit- und Leistungsdrucks junge Menschen an den Rand der eigenen Grenzen bringt. Und ich war da, an genau diesem Rand. Und ich kenne euren Schmerz und die im Nacken sitzende, mit Widerhaken gespickte Angst zu versagen. Damals hätte ich mir gewünscht, von jemandem verstanden zu werden, mit all meinen Zweifeln, meinen Ängsten und dem ständigen Gefühl, nicht genug zu sein, nicht genug zu machen, nicht wertvoll zu sein.

Erschöpfte Studierende auf dem Tischen liegend
Schluss mit der Selbstausbeutung!

Heute bin ich Hochschuldozentin und ich möchte mit diesem Text versuchen, dieser Jemand für euch zu sein. Wichtig: Ich habe durch meine jahrelange Tätigkeit als Dozentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin zwar viel Wissen erworben, konnte mit einer Menge Studierenden und Kolleg*innen offen über ihre Bedürfnisse sprechen und bin während meiner eigenen Psychotherapie durch die Tiefen meiner Gefühle gegangen, aber – ich bin keine Psychologin oder Psychotherapeutin und die folgenden Ratschläge sind daher bitte als reine Erfahrungswerte zu verstehen.

1. Es ist okay, nicht okay zu sein

Wohin man auch blickt, überall begegnet einem das strahlende Glück der Sorgenfreiheit. Sei es die »Glücksschokolade« vom Supermarkt, das »Be-Happy-Shampoo mit glückserfüllender Erdbeernote« oder der »Sorgenfresser Matcha-Latte« vom Café nebenan. Unsere aktuelle Welt ist von einer #goodvibesonly-Mentalität geprägt, die sicher auch beflügeln und Kraft spenden kann, aber eines macht sie in jedem Falle: Unter Druck setzen. Dabei ist es nicht nur okay, nicht okay zu sein. Es ist sogar wichtig. Negative Gefühle sind ein natürlicher Bestandteil unseres menschlichen Erlebens und dürfen Raum in unserem Leben einnehmen.

Ich habe Jahre gebraucht, um diesen Satz nicht nur zu verstehen, sondern auch umzusetzen. Gerade im Studium strebte ich nach einem perfekten Abbild meiner Selbst: Immer glücklich, zufrieden und gut gelaunt, um mich selber wertvoll zu fühlen. Am Ende hat es mich in einen ungesunden Positivitätswahn geführt. Erst nach meinem Studium habe ich gelernt, all meine Emotionen zu akzeptieren und bis heute ist es eine fortwährende Herausforderung. Doch seither erlaube ich mir schlechte Momente zu haben, ohne mich dafür schlecht zu fühlen. Ich darf einfach sein.

Natürlich ist eine positive Grundhaltung wichtig, ohne Frage. Positive Verstärkungen und das Erleben von Erfolgserlebnissen führen nachweislich zur Stärkung der Selbstwirksamkeit und der eigenen Resilienz. Nur dürfen alle anderen (negativen) Gefühle genauso viel Platz haben, wie die positiven. Statt uns also gegen negative Gefühle zu wehren oder sie zu verurteilen, ist es wichtig, ihnen Raum zu geben und sie anzunehmen. Ich weiß, dass das leichter gesagt ist, als getan. Die Reise dorthin wird beschwerlich, gezeichnet von tiefen Tälern, steilen Klippen und mühsamen Pfaden. Doch ist der Gipfel erreicht, gestärkt und erschöpft zugleich, schreien wir in die Welt hinaus: »Scheitern ist ok! Fehler sind ok! Angst ist ok! Ich bin wertvoll, auch wenn ich nicht okay bin« Und seid euch bewusst: Ich schreie mit euch. 

2. Du bist mehr als deine Leistung im Studium

Ich habe dieses Kapitel bis zum Ende der Deadline prokrastiniert. Nicht, weil mir dazu nichts eingefallen ist, ganz im Gegenteil. Vielmehr hatte ich viel zu viel Gefühl für zu wenig Worte. Die ehrliche Antwort ist: Ich bin selber noch auf der Reise. Viele Jahre meines Lebens waren von Bestätigung gekennzeichnet. Kein Wunder, wir leben in einer (ökonomischen) Leistungsgesellschaft ohne gesunde Fehlerkultur. Insbesondere im Studium kann dieser Druck besonders stark sein, da Noten, Prüfungen und Erfolge oft als Maßstab unserer eigenen Wertvorstellung dienen. Ich hätte mir gewünscht, während meines Studiums schon drei Sachen gelernt zu haben:

(I) »Ich bin mehr als das Studium«
Das Studium ist zweifellos wichtig, aber es definiert nicht eure gesamte Existenz. Konzentriert euch auch auf eure Interessen, Leidenschaften und Talente, die jenseits des Studiums liegen. Ihr seid nicht nur Studentin oder Student, sondern auch Freund*in, Familienmitglied, Musiker*in, Sportler*in, Pokémontrainer*in oder einfach coole Socken. Das Studium ist nur ein Teil eurer Reise. Erlaubt euch auch andere Facetten eures Lebens zu erkunden und zu genießen.

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(II) »Sei netter zu dir selbst«
Egal ob im Alltag oder im Studium, wir neigen oft dazu uns selbst zu kritisieren und zu hohe Erwartungen an uns selbst zu stellen. Autsch, wunder Punkt, ich weiß. Doch Selbstmitgefühl und Selbstfü(hl)rsorge sind entscheidend für unsere mentale Gesundheit. Daher: Lasst uns nachsichtiger mit uns selbst sein. Erlauben wir uns Fehler zu machen. Sagen wir statt: »Ich kann das nicht« lieber: »Ich kann das noch nicht«. Feiern wir unsere Stärken und Erfolge. Seien wir für uns selbst die Liebe unseres Lebens.

(III) »Kenne deine Grenzen«
Meine Psychotherapeutin fragte mich einst: »Frau Niendorf, würden Sie es gut finden, wenn jemand bei Ihnen einbricht« Ich schüttelte stirnrunzelnd den Kopf als ich antwortete: »Nein, natürlich nicht«. Sie lächelte milde. »Und warum machen Sie genau das mit ihren eigenen Grenzen?«. Ich habe viele Jahre gebraucht, meine Grenzen zu erkennen und anzuerkennen. Und noch mehr, sie zu schützen. Dabei habe ich gelernt, dass ich unterschiedliche Grenzen auf physischer, emotionaler und mentaler Ebene habe. Wenn ich heute meine Grenzen schütze, achte ich auf meine Bedürfnisse, setze klare Prioritäten, nehme mir Zeit zu reflektieren, plane bewusst Erholungspausen ein und lerne immer mehr Nein zu sagen. Es gelingt nicht immer, aber immer besser. Am Ende führt die eigene Grenzziehung zum wohl schönsten und mutigsten Liebesbeweis, den man sich selbst machen kann: Um Hilfe bitten. 

3. Alles ist ein Prozess

Ich war schlecht. Ich war so unfassbar schlecht darin, Hausarbeiten zu schreiben. Hätte ich der 21-jährigen Lisa gesagt, dass wir in 10 Jahren Studierenden das wissenschaftliche Arbeiten beibringen, hätte sie sich an ihrer Mate verschluckt. In den aller seltensten Fällen ist man von Beginn an gut in dem, was man tut. Das gilt genauso für das Verfassen von Hausarbeiten. Viele meiner Studierenden fällt das Schreiben schwer, weil sie von Beginn an perfekt sein wollen. Sie vergleichen ihre eigenen Texte mit dem Artikel des Professors oder der Professorin und die eigene Selbstwirksamkeit sinkt in den Keller. Freude am Schreiben? Fehlanzeige.

Das ist nur allzu verständlich, doch möchte ich euch sagen: Diese Artikel fallen so nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis von mitunter zweistelligen Bearbeitungsschleifen. Mein damaliger Professor gab mir einen Einblick in seinen Publikationsprozess und ich stellte fest: Seine ersten Entwürfe sind genauso (schlecht) wie meine. Seither begegne ich dem Schreiben mit weniger Druck und lernte einfach anzufangen. Schreiben ist ein Prozess. Man wird zwar mit der Zeit routinierter, doch wir alle sitzen vor demselben weißen Blatt. Also, falls ihr die Möglichkeit habt: Fragt eure Lehrpersonen nach den Entwürfen ihrer eigenen Artikel und ihr werdet vermutlich erkennen – bei allen ist der Anfang schwer. 

4. Wir müssen (mehr) reden

Wann haben euch eure Lehrpersonen zuletzt gefragt, wie es euch geht und es auch wirklich so gemeint? Nicht selten erhalte ich bei der Frage überraschte Blicke. Hochschule muss mehr sein als die reine Vermittlung von Inhalten. Es muss auch darum gehen, eure Kommunikationsfähigkeit und euer Empathievermögen (als vermutlich die wichtigste Ressource unserer Zeit) zu fördern und dass es absolut okay, richtig und wichtig ist, über die (eigene) mentale Gesundheit zu sprechen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es trotz der stark hierarchischen Strukturen an Hochschulen möglich sein kann, euch mit menschlicher, zugewandter und empathischer Kommunikation auf Augenhöhe zu begegnen. Natürlich kann und soll eure Lehrperson es nicht leisten, in jeder Sitzung die aktuellen Gefühlssituationen zu erfragen. Darum geht es auch nicht. Es geht vielmehr darum, einen Raum zu schaffen, in dem ihr euch so sicher fühlt, jederzeit eure Gefühle und eure Zweifel an- und aussprechen zu könnt. 

Der Vorlesungssaal im Studium, ein Sinnbild für einen Raum für Leistung, statt Gefühle.
(K)ein Raum für Gefühle

Doch dieser Raum ist nicht nur oneway zu öffnen – vielmehr bedeutet es auch, dass wir als Lehrpersonen offener über das sprechen, was uns, unser Leben und unsere Lehre beeinflusst. Ich habe letztes Jahr im Sommer ein schweres Verkehrstrauma erlitten und dachte, ich bekomme das schon irgendwie hin. Ende Januar, kurz vor dem Ende des Semesters, zog ich wegen Panik- und Angstattacken die Reißleine und musste meine Seminare frühzeitig aufgrund einer Traumatherapie beenden. Durch das Aufmachen des Raumes haben sich viele meiner Studierenden getraut, offen über ihre eigenen Belastungen zu sprechen. Und auch auf Instagram erreichen mich viele Nachrichten, dass sie dadurch Kraft und Mut gefunden haben, ihre Lebenssituationen offen(er) anzusprechen.  

Fazit:

Stressige und herausfordernde Phasen gehören zum Studium dazu. Von entscheidender Bedeutung ist, wie wir dem Stress und uns selbst dabei begegnen. Letztlich können wir alle, Studierende, Dozierende und Professor*innen, aktiv dazu beitragen, ein unterstützendes und wertschätzendes Klima an unseren Hochschulen zu schaffen, indem wir aufeinander achten und Verständnis füreinander zeigen.

Dennoch sehe ich vor allem die Hochschulen als Institutionen in der Verantwortung, umfassend in die Gesundheit ihrer Studierenden zu investieren. Die Last dürfen weder die Studierenden noch das ohnehin schon überlastete Lehrpersonal tragen. Es ist dringend an der Zeit, dass die Bildungspolitik endlich die Hochschulen aus dem Reich der Vergessenen holt. Vermutlich müssen wir noch eine ganze Zeit in dem aktuellen System (über-)leben. Daher ist es umso wichtiger, dass wir einander unterstützen und im Kleinen und im Großen gemeinsam die Veränderung sind, die wir uns für das Hochschulsystem wünschen. Und wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe, dann das: Ihr seid das Fundament, die Stimme und die treibende Kraft unserer Hochschulen. Ihr müsst gesehen werden.

Kostenloses Booklet: Ein gutes Semester


Möchtest du dein Semester achtsamer gestalten und ein Grundstein für Selbstfürsorge auch in stressigeren Zeiten legen? Um den Einstieg zu mehr Achtsamkeit im Studium zu finden, kannst du unser kostenloses PDF nutzen. Darin findest du verschiedene Reflexionsübungen und Check-ins, die dich durch das Studienjahr und die Ferien begleiten. Den kostenlosen Download findest du hier.


Hapke U., Cohrdes C. & Nübel J. (2019). Depressive symptoms in a European comparison – Results from the European Health Interview Survey (EHIS) 2. J Health Monit, 4 (4), 57 – 65. DOI: 10.25646/6227. PMID: 35146259; PMCID: PMC8734092.

Giesselbach, L., Leimann, J., Bonner, C., Josupeit, J., Dieterich, S. & Quilling, E. (2023): Psychische Gesundheit Studierender während des Online-Studiums im Zuge der COVID-19-Pandemie – quantitative und qualitative Befunde. Präv Gesundheitsf, 1 – 8. DOI: 10.1007/s11553-023-01046-3.

Grützmacher, J., Gusy, B., Lesener, T., Sudheimer, S. & Willige, J. (2018). Gesundheit Studierender in Deutschland 2017. Ein Kooperationsprojekt zwischen dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, der Freien Universität Berlin und der Techniker Krankenkasse.

Techniker Krankenkasse (2023). Gesundheitsreport 2023. Wie geht’s Deutschlands Studierenden? Hamburg. 

Kategorien Achtsamkeit Mentale Gesundheit Selbsthilfe

Lisa Niendorf ist Bildungsforscherin, Hochschuldozentin und queer. Sie setzt sich dafür ein, das Thema Mental Health im akademischen Bereich zu enttabuisieren und die Hochschule zu einem queerfreundlichen Ort zu machen. In ihrer Freizeit ist sie leidenschaftliche Gamerin. Instagram TikTok

2 comments on »Mentale Gesundheit im Studium: Eine Sprechstunde auf Augenhöhe«

  1. Danke für diesen wichtigen Beitrag, der mir in großen Teilen sehr aus dem Herzen spricht und so ein wichtiges Thema anspricht. Ich bin selbst Studentin und kenne sehr viele Kommoliton*innen, die das Thema auch betrifft.
    Über Punkt 4 habe ich mir in letzter Zeit immer wieder Gedanken gemacht und finde es gar nicht so leicht: Möchte ich, wenn ich sowieso in einer vulnerablen Phase bin, das alles auch noch mit meinen Dozent*innen teilen? Das kann auch sehr überfordernd sein. Vielleicht kann man sogar in manchen Momenten gar nicht abschätzen: Möchte ich mich jetzt in diesem Rahmen öffnen oder hab ich persönlich einfach nur gerade so eine große Not, dass ich nicht anders kann, sobald mir jemand eine empathische Ebene anbietet? Ist es mir zu privat persönliches und fachliches zu teilen (man macht sich damit ja auch sehr sichtbar). Werden mir Dozent*innen auch wieder eine andere Ebene anbieten oder prägt das die Beziehung, wenn ich mich einmal geöffnet habe?
    Auch bei Entschuldigungen für Seminare finde ich es gar nicht so leicht: Welche Formulierung wähle ich für eine Entschuldigung? Schreibt man den Grund jetzt dazu, um verstanden zu werden, um auf das Thema aufmerksam zu machen oder ist es die Angst sich rechtfertigen zu müssen?
    Danke, dass ihr dem Thema Aufmerksamkeit schenkt.

  2. Danke! Einfach nur Danke für diesen Text.

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