Warum wir nicht mit Lob sparen sollten – vor allem bei uns selbst

Gib dir selbst öfter mal ein Like
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Eine typische Situation, die mir in Interviews immer wieder begegnet: Wir plaudern locker flockig über die Vorzüge und Potenziale introvertierter Menschen, bis mich die interviewende Journalistin mit dieser Frage überrascht: „Was sind denn Stärken, auf die du persönlich richtig stolz bist?“

Erwischt! Mir wird direkt ein bisschen heißer und die Röte breitet sich auf meinen Wangen aus. Darüber sprechen, was ruhige und zurückhaltende Menschen für großartige Fähigkeiten in unsere Gesellschaft einbringen, das ist leicht für mich. Die Cheerleaderin für andere sein und ihnen Mut zusprechen? Mache ich liebend gern. Aber mich vor laufendem Mikrofon selbst loben… Das fällt mir richtig schwer. Nicht, weil ich keine Ahnung hätte, was ich antworten soll. Sondern, weil es sich irgendwie falsch anfühlt, die eigenen Vorteile so herauszukehren.

Mit diesem Gefühl bin ich nicht allein. Die Angewohnheit, lieber tiefzustapeln als offen zu den eigenen Fähigkeiten zu stehen, ist weit verbreitet. Oft sind uns unsere eigenen Schwächen sogar viel präsenter als unsere Stärken. Woran liegt das? Und wie schaffen wir es, stattdessen den Blick für unsere guten Seiten zu schulen? Diese Fragen beschäftigen mich seit einer Weile.

Unsere Defizite können wir im Schlaf aufzählen

Schon von klein auf wird unser Blick für Mängel geschult, allerspätestens in der Schule geht es los damit. Es gibt sogar eine extra Note für Schönschrift. Schreiben können allein reicht nämlich nicht, schön muss es auch noch aussehen. Ich erinnere mich außerdem daran, dass Lehrer*innen aus meiner Schulzeit gelegentlich die Namen derer Mitschüler*innen vorlasen, die die besten und schlechtesten Leistungen in der Klassenarbeit erbracht hatten. Motivieren sollte das. Keine Ahnung, in welchem Paralleluniversum das funktioniert, mich hat es lediglich entmutigt. Viele kreative, fantasievolle und hochintelligente Menschen denken auch heute als Erwachsene noch, dass sie kaum Talente haben, weil in der Schule andere Stärken als die eigenen gefragt waren. 

Aber verlassen wir die Schule und schauen in die Arbeitswelt: Kollektiven Beifall erntet man auch hier, wenn man jeden Tag hart daran arbeitet, noch ein bisschen besser zu sein als gestern. In Mitarbeiter*innengesprächen geht es häufig mehr ums Eliminieren von Defiziten statt dem Stärken von Potenzialen.

Notfalls den Selbstliebe-Reminder einfach auf die Haut tackern

Wir sind es also seit jeher gewohnt, uns in das Studium unserer Unzulänglichkeiten zu vertiefen. Für mich zum Beispiel reicht ein Blick in den Spiegel und ich weiß direkt, wo meine Baustellen liegen. Meine Oberarme wabbeln so verdächtig, ich könnte wirklich mehr für meine Gesundheit tun. Mit dem Make-up könnte ich mir auch mehr Mühe geben, ich sehe in Zoom-Calls immer so abgespannt aus. Und was ist eigentlich mit meiner sozialen Verantwortung, komme ich der ausreichend nach? Ich melde mich nicht oft genug bei meinen Freund*innen, sie sind meist diejenigen, die sich bei mir melden. Ach, und die E-Mails, die seit Wochen unbeantwortet in meiner Inbox herumgeistern, welches Bild gebe ich denn jetzt bei meinen Geschäftspartner*innen ab?

Dass ich jeden Tag diszipliniert bei Wind und Wetter mindestens 45 Minuten straff spazieren gehe, letzte Woche eine liebevolle Karte an eine Freundin gesendet habe und meinen guten Ideen einen neuen Buchvertrag zu verdanken habe? Huch, das muss ich wohl kurz ausgeblendet haben.

Unser Gehirn hat laut Studien die Tendenz, sich mit Vorliebe auf das Negative zu stürzen. Das ist an sich eine gute Sache, denn so erkennt es potenzielle Gefahren schnell und wir können sie rechtzeitig abwenden. 

Der bekannte Psychologe und Mitbegründer der positiven Psychologie Martin Seligman nennt dies das katastrophische Gehirn. Ist schon praktisch, wenn unser Gehirn uns im Dschungel erst auf die lauernde Raubkatze aufmerksam macht und später auf den hübschen bunten Vogel im Baum. Ungünstig ist eher, dass wir dieses Überlebensprogramm im Alltag kaum benötigen. Doch unser Denkmuskel stürzt sich automatisch auf das, was fehlt, während wir die guten Seiten einfach ausblenden. Und so machen wir uns häufig unnötige Sorgen, neigen zum Pessimismus und verbeißen uns in unseren Defiziten.

Fähigkeiten wahrnehmen und wertschätzen

Wir merken schon, die Umstände machen es uns nicht leicht. Und dennoch sind wir für unsere Gefühlswelt selbst verantwortlich. Das Schöne ist, wir können unseren Blickwinkel jederzeit anfangen zu verändern. Wir können ungesunde Denkmuster Schritt für Schritt verlernen und mit der Zeit immer häufiger durch Handlungen ersetzen, die uns guttun.

Es lohnt sich, wenn wir regelmäßig innehalten und ein wenig Zeit mit uns selbst verbringen. Wenn ich weiß, wer ich bin und was mich auszeichnet, habe ich weniger Stress, fühle mich erfüllter, motivierter und zufriedener. Wenn du Lust hast, dann nimm gern Zettel und Stift in die Hand und versuche die folgenden Fragen zu beantworten:

  • „Wie war ich als Kind? Was habe ich richtig gern gemacht? Was fiel mir leicht?“
  • „In welchen Momenten bin ich heute ganz bei mir?“
  • „Welche Tätigkeiten schiebe ich nie vor mir her, weil ich sie so mag?“
  • „Was war meine letzte Herausforderung? Was habe ich daraus über mich selbst gelernt?“
  • „Auf welche Aufgaben freue ich mich in der kommenden Zeit besonders und warum?“
  • „Wie mache ich mit meinen Fähigkeiten den Alltag für mich und mein Umfeld ein bisschen schöner und leichter?“
Noch mehr Fragen für mehr Selbsterkenntnis und Aha-Momente

Stärken stärken, Defizite umarmen: So gewinnen alle

Eigenlob stinkt, sagt der Volksmund. Diese angebliche Wahrheit haben wir als Glaubenssatz übernommen und hinterfragen sie kaum noch. Es zeugt jedoch von Ausgeglichenheit und guter Selbstkenntnis, wenn wir sagen können:

„Ja, ich bin gut im (setze hier eine beliebige Fähigkeit ein) und ich freue mich, dass ich damit die Menschen in meinem Umfeld unterstützen kann.“

Mit derselben Ausgewogenheit dürfen wir auch unsere Schwächen umarmen: 

„Stimmt, (Schwäche deiner Wahl) liegt mir nicht so gut, aber das ist im Moment auch in Ordnung so. Ich bin froh, dass (Familienmitglied/Kolleg*in/Freund*in/Partner*in) das so gut kann. Ich muss gerade nicht all das leisten können.“ 

Sich auf die eigenen Stärken zu besinnen und sich ihrer nicht zu schämen hat nichts mit Selbstbeweihräucherung zu tun. Sondern ganz im Gegenteil, mit Achtsamkeit. Wenn wir uns selbst für unsere guten Seiten loben können, zapfen wir eine Quelle positiver Emotionen an. Wir stärken ein gesundes Miteinander, wenn wir unsere eigenen und die Stärken anderer zu würdigen wissen.

„Umarme das herrliche Durcheinander, das du bist.“

Elizabeth Gilbert

Es ist außerdem wichtig zu verstehen, dass mit Stärken so viel mehr gemeint ist als bloß die Tätigkeiten, die uns locker von der Hand gehen oder die Dinge, die uns Spaß machen. Sie umfassen auch bestimmte Denkmuster, die uns Energie und Motivation geben, individuelle Erfahrungswerte oder Prinzipien und Werte, die uns am Herzen liegen. Jede*r von uns hat also ein kunterbuntes Repertoire an Stärken mitbekommen, doch häufig ist uns das gar nicht bewusst.

Das liegt unter anderem daran, dass viele dieser Fähigkeiten und Ressourcen schon immer da waren, weil sie Teil unserer Persönlichkeit oder ein Ergebnis unserer Lebenserfahrung sind. Wir setzen sie im Alltag so intuitiv ein, dass uns ihr großer Wert oft verborgen bleibt. Schlimmer noch, manchmal bagatellisieren wir unsere Stärken sogar, wenn uns jemand für sie lobt.

Aufblühen statt Kopf hängen lassen

Ich erinnere mich an eine Situation vor einiger Zeit, als mir eine Kollegin dafür dankte, mit welcher Aufmerksamkeit und großen Liebe zum Detail ich ihr ein Geschenk überreichte. Meine Antwort: „Ach, dafür nicht. Ist doch selbstverständlich.“ Ich hätte stattdessen sagen können: „Gerne. Es ist mir ein Herzensanliegen gewesen, dir für deine Mühe zu danken.“ – Hier kommen Empathie, Aufmerksamkeit, Anerkennung und Dankbarkeit zum Tragen. Daran ist nichts selbstverständlich.

Hier noch ein paar wertvolle Anregungen und Rituale, die mir im Alltag dabei helfen, meine Fähigkeiten und Ressourcen besser zu erkennen und zu kultivieren. Bestimmt kommt der eine oder andere Ansatz auch für dich infrage:

  1. Ein Journal schreiben:
    Jeden Tag notiere ich mir ein paar Sätze oder Stichworte über das, was ich getan und erlebt habe. Ich halte kleine und große Erfolge fest und als kleine Extra-Übung bemühe ich mich, täglich drei Dinge aufzuzählen, für die ich dankbar bin. Was mir dieses Ritual bringt: Anstatt mich auf all das zu konzentrieren, was ich nicht so gut kann, wer ich nicht bin und auch nie sein werde, lenke ich meinen Fokus bewusst auf Dinge, die ich gut kann und gerne tue. 
  2. Bewusste Auszeiten nehmen:
    Ich versuche mir regelmäßig Zeit für Dinge zu nehmen, die mir Spaß machen und die mich interessieren. Eine meiner Stärken ist beispielsweise Kreativität. Um diese Ressource zu stärken, tut es mir gut, Neues auszuprobieren und mit Ideen zu experimentieren. Ob es Kochrezepte sind oder Basteleien, Schreibübungen oder ein neues Strickprojekt – ganz egal. Allein der Prozess schenkt mir Freude und Zufriedenheit. Wichtig: Ich verzichte in dieser Zeit bewusst auf Berieselung durch soziale Netzwerke, Hörbücher oder Podcasts, weil ich mich auf meine innere Welt und den Prozess konzentrieren möchte.
  3. Achtsamkeitstraining:
    Ich habe mir dieses Jahr eine App mit geführten Achtsamkeitsübungen installiert. Durch geführte Bodyscans und Atemübungen gewinne ich mehr Distanz zu meinen Gedanken und Gefühlen. Diese Distanz erlaubt es mir, mich selbst mit anderen Augen zu betrachten und Eigenschaften an mir wahrzunehmen, die ich vorher kaum beachtet habe.
  4. Beziehungen stärken:
    Neben dem Blick nach innen ist auch die Verbundenheit mit anderen ein wichtiger Schritt zu sich selbst. Durch achtsame Gespräche mit anderen finde ich Gemeinsamkeiten und erfahre Bestätigung für Merkmale, die mich auszeichnen, aber auch Akzeptanz für meine Macken. Auch auf Unterschiede zu stoßen, kann heilsam sein. So kann ich erkennen, wo meine Fähigkeiten gebraucht werden und wo eigene Defizite von anderen mitgetragen werden können. 
  5. Lesen:
    Bücher öffnen uns die Tür zur großen, weiten Welt, ohne dass wir dafür verreisen müssen. „Becoming“ von Michelle Obama ist beispielsweise so ein Buch, das mir geholfen hat, mehr bei mir zu bleiben, statt zu versuchen, eine Definition von Erfolg zu leben, die gar nicht meine ist.

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