Wut zur Veränderung: Nutze deinen Ärger und verändere die Welt

Wut hat ein schlechtes Image. Sie wird häufig als ein Synonym für Zerstörung und Destruktivität verwendet. Dabei ist Wut ein Alarmsignal. Ein innerer Kompass, der uns warnt, schützt und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht. Was Wut mit Selbstliebe zu tun hat.

Der Wut ins Auge blicken

Letztens war ich wütend. Ich fuhr mit der Deutschen Bahn. Es ging nicht um eine Verspätung, sondern ich steckte mal wieder in einem Dilemma. Welche Grenze ist mir wichtiger? Meine oder die von Anderen?

Mich motiviert es, im Zug eingesperrt zu sein. Kaum Netz, mieser Kaffee und die Monotonie, der am Fenster vorbeiziehenden Landschaften, helfen mir, mich zu fokussieren. Deshalb buche ich mich gern in den Ruhebereich ein, der mit einem Emoji, das seinen Zeigefinger auf den Lippen hält, symbolisiert wird. Ich setzte mich hinein und klappte meinen Laptop auf. Dann stiegen vier Personen mit knisternden Tüten ein, machten es sich bequem, öffneten mehrere Sektflaschen, riefen »Auf uns!« und prosteten sich zu.

Zunächst war ich genervt. Doch dann schaukelte die Wut sich in mir hoch. Meine Wangen glühten und ich haute auf meine Laptoptastatur. Irgendwann realisierte ich, dass meine Noise-Cancelling-Kopfhörer keine magische Ruhe kreieren konnten. Darum musste ich mich selbst kümmern. Ich holte tief Luft, stand auf und sagte: »Entschuldigen Sie bitte?« Alle Köpfe schnellten in meine Richtung und fixierten mich. Ich fuhr fort: »Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, aber sie befinden sich im Ruhebereich,« mein Finger zeigte auf das Emoji, die Augenpaare folgten ihm und dann schauten sie mich wieder an. »Ich muss unbedingt arbeiten und würde mich freuen, wenn sie leiser sein könnten.« Erst setzte eine Ruhe ein, doch dann rollten sie mit den Augen und erklärten: »Boah!« »Es ist Freitag.« Eine andere erklärte: »Spaßbremse!« Sie lachten und stießen wieder an.

Ich setzte mich. Die Hitze, die meinen Körper durchströmte, entwich mir und meine angespannte Muskulatur beruhigte sich. Obwohl die Frauen sich noch einige Minuten aufregten, begannen sie zu flüstern. Sie gaben sich Mühe. Die nächsten fünf Stunden arbeitete ich vor mich hin und als wir am Zielort ankamen, stieg ich aus. Ich fühlte mich gut. Zwar finden die vier Frauen mich richtig bescheuert, doch ich habe bekommen, was ich wollte. Ruhe. 

Wut hat ein schlechtes Image

Sie wird häufig als ein Synonym für Zerstörung und Destruktivität verwendet. Dabei ist Wut ein Alarmsignal. Ein innerer Kompass, der uns warnt, schützt und auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht. Sie setzt ein, sobald ein Bedürfnis nicht erfüllt wurde. 

Von Kindesbeinen an lernte ich: Du darfst nicht wütend sein. Vor allem als Frau. Das meine ich nicht im biologischen Sinne. Ich spreche von unserer soziokulturellen Vorstellung, wie eine Frau sich zu verhalten hat. Das ist im Prinzip der Kern des Problems. Erwartungen. Geschlechterrollen. Hirngespinste. Wenn ich dann doch wütend war, nahm mich niemand ernst. Dann bin ich verklemmt, unangenehm, peinlich oder ich bin selbst an meiner Wut schuld, habe zu wenig geschlafen, gegessen, hatten zu wenig Sex oder bin gestresst – reiß dich doch mal zusammen! 

Männliche Wut hat einen Grund. Einen, den wir breit analysieren. Ein Mann ist wütend, wegen äußerer Umstände. Er ist gestresst, hat einen schlechten Tag, leidet unter diesem oder jenem. Frauen sind selbst schuld an ihrer Wut.

Mann mit Wut im Gesicht blickt sich im Spiegel an
Kein unüblicher Anblick

Diese Mechanismen sorgen dafür, dass wir die Wut von Frauen nicht ernst nehmen. Mit Frauen und Männern geht es nicht um die eine Frau oder den einen Mann, sondern viel mehr um das soziale Konstrukt dahinter. Die heteronormativen Vorstellungen von ihnen. Es geht darum, dass es ein gesellschaftliches Bild von Frauen gibt, mit der Botschaft, dass sie sanft und fürsorglich sein sollen. Wenn sie sich nicht an dieses Protokoll halten, werden sie schnell als irrational oder hysterisch bezeichnet. Bei diesem Prozess nehmen wir ihnen die Souveränität, Protest in eigener Sache äußern zu können.  

Wut ist gleich Macht

Das hat natürlich einen Grund. Wer in unserer Gesellschaft wütend sein darf, ohne soziale Folgen, hat Macht, wer sie nicht ausdrücken darf, wird kontrolliert. Wut und Macht sind integral miteinander verknüpft, aber auch, wie viel eine Gruppe für unsere Gemeinschaft wert ist. Wenn uns eine Person wertvoll erscheint, halten wir es für richtig, dass sie wütend ist, wenn sie beispielsweise verletzt wird. Ob verbal oder physisch. Wir nehmen ihre Wut ernst. Vielleicht regen wir uns sogar mit auf. Wir empfinden Wut-Empathie.

Die Zugsituation ist banal. Ein alltägliches sich aufregen. Aber wenn es mir auf dieser Ebene schwerfällt, wie soll ich es dann auf einer größeren strukturellen schaffen? Das Kleine macht das Große aus. 

Denn Wut ist nicht nur Selbstliebe, sondern auch eine essenzielle Ingredienz für den politischen Wandel. Ohne diese Emotion könnten Frauen heute nicht wählen oder hätten ein eigenes Bankkonto. Dank Gewerkschaftsproteste gibt es einen Arbeitnehmer*innenschutz. Es ist das Erkennen von Ungerechtigkeit, das Erspüren von Grenzen und die notwendige Kraft, um über Mauern zu springen und Brücken zu schlagen.  

Unsere kulturellen Erwartungen an Geschlechterrollen hält Mädchen und Frauen weltweit davon ab, ihre Wut auszudrücken. Dabei ist Wut eine Kraft, die sozialen Wandel hervorrufen kann. Eine aus biologischer, psychologischer und philosophischer Perspektive essenzielle Emotion, die, wenn sie nicht ausgelebt wird, in ernsthaften psychischen und gesundheitlichen Problemen endet. Wut ist unangenehm. Mir war sie peinlich. Sobald sie wellenartig in mir aufstieg, drückte ich sie jahrelang mit inbrünstiger Kraft herunter. Das machte mich müde. So sehr, dass ich die gesellschaftlichen Probleme gar nicht sah. Ich war so sehr damit beschäftigt, meine heile Welt zu erschaffen, auf meiner kleinen Insel der Happiness-Isolation zu versanden, statt gemeinsam mit anderen Menschen auf die Straße zugehen und gegen Ungerechtigkeit vorzugehen. 

Unterdrückte Wut isoliert

Sie sorgt dafür, dass ich bei meinen Problemchen bleibe, obwohl diese nicht immer individualistisch, sondern ein kollektives Erleben sein können. Ich wollte nicht als zickig, schwierig, laut, emotional oder unprofessionell wahrgenommen werden. Dabei gibt es verdammt viele Gründe, so richtig wütend zu sein.

Frauen berichten häufiger1 von Erschöpfung als Männer. Sie erleben weniger Orgasmen2, zumindest wenn sie Sex mit Männern haben. Sie verdienen weniger Geld3 als ihre männlichen Kollegen. Häufig ist es strukturbedingt. Drei Viertel des Verdienstunterschieds zwischen Männern und Frauen liegen daran, dass Frauen häufiger in Branchen und Berufen arbeiten, in denen schlechter bezahlt wird, und sie seltener Führungspositionen erreichen. 

Erschöpfte Frau liegt auf einem Kissen.
Unterdrückte Wut macht müde und einsam

Weibliche Patientinnen werden seltener wegen Schmerzen4 behandelt als männliche Patienten, die mit den gleichen Symptomen auftreten. Frauen sterben noch immer häufiger als Männer an einem Herzinfarkt.5 Die Sterblichkeit hängt noch dazu davon ab, wer sie behandelt. Werden Frauen von einer Ärztin behandelt, überleben sie deutlich häufiger. Jede dritte Frau6 in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Betroffen sind Frauen aller sozialen Schichten. 

Mit dieser gigantischen Palette von Gründen, stellt sich nicht nur die Frage, warum wir nicht außer uns sind, sondern warum es ein strukturelles Verlangen gibt, Frauen Wut abzusprechen?

Wie lautet die Lage unserer Gesellschaft, wenn es keinen Raum für die Wut von Frauen gibt? Gibt es eine tiefe kulturelle Angst davor? Eine Frau, die keine Wut empfindet, wird auch nicht zur Gefahr, sie kann nichts an der eigenen, ungerechten Realität ändern. Dabei fühlen Frauen Wut genauso häufig wie Männer. Sie schlucken sie nur hinunter, weil unsere Gesellschaft eine lächelnde und sanfte Frau belohnt

Wir brauchen mehr Wut-Empathie

Die Lösung ist nun nicht, dass alle Frauen – alleine – ihrer Wut freien laufen lassen, wie Mini-Hulks durch die Gegend stampfen und dann ist alles erledigt. Ganz im Gegenteil: Wer öffentlich ausrastet, gilt als charakterschwach. Die eigene Erkenntnis reicht nicht aus. Wütende Frauen werden von Männern sowie von anderen Frauen nicht ernst genommen. Es geht somit nicht nur darum, überhaupt zu begreifen, dass es eine systematische Trennung zwischen Wut und Weiblichkeit gibt. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Wandel.

Gesellschaftlicher Wandel entsteht durch Wut, denn er treibt Bewegungen wie den Feminismus an.
Wut bringt uns weiter

Schon von Kindesbeinen an sollten Mädchen überhaupt den Raum erhalten, ihre Wut auszuleben, sie zu verstehen, statt sie zu belohnen, sobald sie diese herunterschlucken. Gleichzeitig müssen wir auch Jungs zeigen, dass auch sie die Wut von Mädchen anerkennen. Wir alle empfinden Wut, nur lernen wir im Laufe unserer Sozialisierung differenziert damit umzugehen. Das ist mit der Kern des Problems. Gleichzeitig müssen wir eine Wut-Empathie kultivieren, wie Männer, die wütend sind, wenn Frauen schlecht behandelt werden. Weiße Menschen, die sich gegen Rassismus stark machen oder Menschen, die den sozialen-ästhetischen Normen entsprechen und sich gegen Fettfeindlichkeit einsetzen. 

Wenn Frauen alleine wütend sind, werden sie nicht ernst genommen. Sind sie es im Kollektiv, können sie Berge versetzen. Packen Männer mit an, ist Gleichberechtigung keine Theorie mehr, sondern Alltag. Wut kann, wenn sie richtig kanalisiert wird, die Welt verändern. Sie kann ein Katalysator sein, ein Motor. Warum also nutzen wir diese Kraft nicht?  


1: “Geschlechtsspezifische Aspekte von Burnout” W. Lalouschek , B. Kainz in blickpunkt, der mann, Wissenschaftliches Journal für Männergesundheit, 2008
2: “Variation in Orgasm Occurrence by Sexual Orientation in a Sample of U.S. Singles” von J. Garcia et al. In: The Journal Of Sexual Medicine, 2016
3: “Gender Pay Gap 2019: Frauen verdienten 20 % weniger als Männer” vom Statistischen Bundesamt von 2020
4: THE HEALTH GAP | HEALTH Pain bias: The health inequality rarely discussed von Jennifer Billock, BBC, 2018
5: “Männer sind halt keine Patientinnen” von Clara Hellner, Zeit Wissen 2019
6: Frauen vor Gewalt schützen Häusliche Gewalt  vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendliche, 2020 

Kategorien Achtsamkeit Mentale Gesundheit Selbstbild

Schreiben. Es klingt pathetisch, aber genau das war Ciani-Sophia Hoeders Ziel. Ein Mittel, um den Sinn und Unsinn des Lebens zu begreifen. Deshalb hat sie das Schreiben zur Berufung gemacht. Von Büchern, Artikeln bis hin zu Videoskripte. Heute ist Ciani-Sophia Hoeder freie Journalistin, visuelle Storytellerin, Gründerin des ersten Online-Lifestylemagazins für Schwarze FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter, Nicht-Binär und agender) im deutschsprachigen Raum namens RosaMag, Solopreneurin, Grimme Online Nominierte und Gewinnerin des Goldenen Bloggers. Im Herbst 2021 erschien bei hanser blau ihr Debütbuch – “Wut & Böse.” Jetzt schreibt sie über ein Thema, das unsere gesamte Gesellschaft definiert, aber bei vielen Menschen Unbehagen auslöst – Klasse.

4 comments on »Wut zur Veränderung: Nutze deinen Ärger und verändere die Welt«

  1. Vielen Dank an Frau Hoeder für diesen Beitrag.
    Das spricht mir aus der Seele und ich habe solche Zugsituationen schon oft erlebt, aber nicht immer etwas dazu gesagt.
    Meine Schwester und ich haben beide als Erwachsene in der Psychotherapie erfahren, dass wir als Kinder irgendwann zuhause gelernt haben, unsere Wut runterzuschlucken. Immer wieder fragte ich mich, was an dem Gefühl Wut falsch sein soll und warum und wie man dieses Gefühl (als Frau) unterdrücken soll.

  2. Danke für den großartigen Beitrag! Genau mein Thema! Das Beispiel mit der Wut im Ruheabteil über lärmende Mitmenschen hab ich selbst schon erlebt und genauso damit gekämpft, ob ich meine Wut äußern soll. Habe es getan, war sehr befreiend – und ich konnte in Ruhe arbeiten.
    Stimme absolut zu, dass sich in solchen kleinen, alltäglichen Beispielen zeigt, wie sehr wir verlernt haben, die Verletzung unserer Grenzen oder das Gefühl von Ungerechtigkeit ernstzunehmen.
    Werde den Beitrag weiterempfehlen!

  3. großartiger Text!
    danke.

  4. Ulrika Lina Martin

    Danke für diesen interessanten Artikel , eine Perspektive zum mitnehmen , dass mein Frauenherz schlagen lässt !
    Liebe Grüße
    Ulrika

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