Beziehungen in Balance: So gelingen Me-Time und ein erfülltes Sozialleben

Zwischen Zugehörigkeit und Zeit für dich

Vielleicht kennst du diese Dysbalance auch aus deinem eigenen Leben: Es gibt Phasen, da schaust du aus dem Fenster und denkst: »Na toll, alle haben ein Leben, nur ich hocke allein hier drinnen«. Oder diese Phasen, wo du so viele Verabredungen hast, dass du Sorge hast, inmitten des Labyrinths aus Terminen und Aufgaben verloren zu gehen. Beide Extreme fühlen sich nicht gut an und sind schädlich für unsere körperliche und geistige Gesundheit:

Als soziale Wesen sind wir darauf angewiesen, nährende und erfüllende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen: Wertschätzende Gespräche, gemeinsam zu lachen und Erlebnisse miteinander zu teilen, die zu unvergesslichen Erinnerungen werden, machen uns glücklich. Wenn wir uns über einen zu langen Zeitraum isoliert und allein fühlen, kann das zu Depressionen und Angstzuständen führen und langfristig sogar mit einem erhöhten Risiko für chronische Erkrankungen einhergehen.

Ein überfüllter Terminkalender ist das andere Extrem. Wenn wir ständig das Gefühl haben, durchs Leben zu hetzen und selbst die Freizeit zu einer nie enden wollenden To-Do-Liste wird, können wir in einen Zustand chronischer Erschöpfung geraten. So kann zu viel Stress zu einer Reihe von Symptomen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen und einem geschwächten Immunsystem führen. 

Finde heraus, was du brauchst

Es ist wenig überraschend, dass wir manchmal nicht auf Anhieb wissen, was uns gerade guttut: Wir leben in einer Zeit, in der es noch nie so leicht war, ständig mit der Außenwelt in Kontakt zu sein. Dadurch wird es auf der anderen Seite immer schwieriger, bei sich zu sein. 

Sozialleben soll kein Stress sein

In unserer Gesellschaft ist es üblich und oft sogar erwünscht, unseren Körper zu ignorieren, statt eine gesunde Beziehung zu ihm aufzubauen: Wir sehen uns als Verstandesmenschen und vergessen dabei, dass wir selbstverständlich auch Gefühlsmenschen sind. Das haben wir unter anderem dem französischen Philosophen Descartes zu verdanken, der im 17. Jahrhundert den Grundstein für den Rationalismus legte, der unsere abendländische Kultur bis heute maßgeblich prägt.

So passiert es im Alltag immer wieder, dass wir unseren Körper behandeln wie eine Maschine, statt wie eine*n Freund*in. Zum Beispiel, wenn wir krank zur Arbeit gehen, statt uns zu schonen. Wenn wir nichts essen, um Kalorien zu sparen, obwohl wir hungrig sind. Oder wenn wir ignorieren, dass wir eine Pause brauchen, weil noch so viel zu tun ist. Wir haben gelernt, dass wir zu funktionieren haben. 

Unsere Aufgabe – einzeln und als Gesellschaft – besteht nun darin, wieder stärker mit unserer fühlenden Seite in Kontakt zu treten und sie zu stärken. Ich habe dir drei Anregungen zusammengestellt, die dir dabei Orientierung bieten und helfen, stärker im Einklang mit deinen Bedürfnissen zu leben.

1: Setze dich mit deiner Persönlichkeit auseinander

Es ist ganz natürlich, dass manche Menschen mehr soziale Interaktion brauchen als andere, um sich wohlzufühlen. Schätzungen zufolge sollen sich 30 – 50 % aller Menschen eher introvertiert verhalten. Introversion und Extraversion sind Persönlichkeitsmerkmale, die zum Teil genetisch, zum Teil durch Umwelteinflüsse erworben sind. Die Begriffe stellen die zwei Enden eines Kontinuums dar, auf dem wir uns bewegen. Sie beschreiben, auf welche Weise ein Mensch Energie bezieht, das heißt, welches Maß an äußerer Stimulation wir benötigen, um sich rundum wohl, produktiv und leistungsfähig zu fühlen. Unser Gehirn schüttet als Reaktion auf äußere Reize den Neurotransmitter Dopamin aus, das unser Belohnungssystem aktiviert und uns Freude und Zufriedenheit schenkt. 

Der Knackpunkt ist die Dosis. Und die ist sehr individuell. Tendenziell Extravertierte benötigen mehr Dopamin, um sich ausgeglichen zu fühlen und sie fühlen sich unterstimuliert, wenn sie zu wenig Zeit mit anderen verbringen. Introvertierte hingegen reagieren empfindlicher auf Dopamin und fühlen sich in der Folge schneller überstimuliert (Olsen Laney, M., 2002). Angenommen, du bist introvertiert und dein*e Partner*in ist extravertiert. Nach einer langen, arbeitsreichen Woche kannst du dir nichts Entspannenderes vorstellen, als mit einem Buch auf der Couch zu liegen und die Eindrücke der Woche zu verarbeiten. Für deine*n Partner*in hingegen fühlt sich das an wie eine Strafe: Schon die ganze Woche zuhause gewesen und jetzt auch noch am Wochenende? Für Extravertierte mag sich das anfühlen wie ein Gefängnis. Sie verarbeiten ihre Eindrücke und Erlebnisse am besten im Austausch mit anderen.

Geballte Energie

Schon an diesem kleinen Beispiel erkennst du, wie wichtig es ist, deine Persönlichkeit und deine Bedürfnisse immer besser kennenzulernen. Denn erst, wenn du Klarheit über deine Wünsche und Beweggründe hast, kannst du in einen konstruktiven Dialog mit anderen treten und Transparenz schaffen. Transparenz ermöglicht, dass wir einander verstehen können, gemeinsame Lösungen entwickeln und sogar, dass auch andere ihre Bedürfnisse besser einordnen und äußern können. Deine eigenen Bedürfnisse zu kennen und respektvoll zu äußern, ist also nicht egoistisch, sondern du förderst damit eine Atmosphäre, in der sich auch andere gesehen und akzeptiert fühlen.

Es lohnt sich, über folgende Fragen nachzudenken:

  • »Bei welchen Tätigkeiten kann ich mich gut erholen?«
  • »Wie sieht in meinen Augen ein schöner Abend mit Freund*innen aus?«
  • »Wie sieht ein gelungener Abend allein für mich aus?«
  • »Welche Kontakte inspirieren mich und geben mir Kraft?«
  • »Unter welchen Rahmenbedingungen kann ich Gemeinschaft am besten genießen?«

Ich fühle mich zum Beispiel oft nach sozialen Ereignissen erschöpft, selbst wenn ich es richtig genossen habe, mit lieben Menschen unterwegs zu sein. Das ist ganz normal. Die Antwort lautet jedoch nicht, sämtliche soziale Interaktionen mit anderen zu vermeiden. Sondern genauer hinzusehen, wo wir mit unserer Energie jetzt gerade stehen, unter welchen Rahmenbedingungen wir uns rundum wohlfühlen. 

Dieses Erkunden der eigenen Bedürfnisse kann richtig Freude machen, wenn man sich selbst mit einer neugierigen Haltung begegnet. Statt uns für unsere Gefühle und Gedanken zu verurteilen, können wir fragen: »Aha wie interessant, warum fühle ich mich gerade so? Was will mir mein Körper wohl gerade sagen?«

Ich habe zum Beispiel festgestellt, dass ich entgegen meinen eigenen Erwartungen gar keine Einzelgängerin bin. Introvertierte Menschen werden von unserer Gesellschaft schnell als Einsiedler*innen bezeichnet, also habe ich mich jahrelang artig in diese Schublade begeben und dieses Etikett für mich angenommen, obwohl ich immer etwas unglücklich darüber war, dass andere mich so wahrnahmen. Durch diesen Tunnelblick konnte ich lange nicht bemerken, dass ich eigentlich ein recht hohes Bedürfnis an sozialer Interaktion habe.

Strafe oder Sehnsuchtsort

Es ist das »Wie«, das hierbei einen großen Unterschied macht: Während es mich auslaugt, eine Stunde in einer lauten Bar zu verbringen, schlaucht mich eine drei- bis vierstündige Coaching-Session mit meinen Klient:innen deutlich weniger. Gruppenchats und soziale Netzwerke saugen mir viel Energie ab, um in Kontakt zu bleiben. Sprachnachrichten, Videochats und Treffen mit weniger als fünf Personen hingegen geben mir viel Kraft.

2: Lerne, deinem Körper zuzuhören

Unser Körper weiß eigentlich schon alles: Wenn wir hungrig sind, knurrt unser Magen. Und wenn wir müde sind, gähnen wir oder unsere Augenlider werden schwer. So ähnlich verhält es sich auch mit unseren emotionalen Bedürfnissen: Auch hier versucht unser Körper, mit uns in Kontakt zu treten, um uns zu zeigen, was er gerade benötigt. 

Unser Körper kommuniziert auch mit uns, wenn wir zu viel oder zu wenig menschliche Nähe haben. Wenn wir einsam sind, tut er dies zum Beispiel durch Langeweile, Niedergeschlagenheit oder das Gefühl von innerer Leere. Auch Reizbarkeit oder Grübelschleifen können ein Hinweis darauf sein, dass wir einen Tapetenwechsel benötigen und in der Interaktion mit anderen auf neue Ideen und Problemlösungen kommen. Einsamkeit kann sich sehr unangenehm und schmerzhaft anfühlen, darum trauen sich viele Menschen nicht, offen mit diesem Gefühl umzugehen. Doch wie viele andere vermeintlich negative Gefühle, hat auch die Einsamkeit eine wichtige Botschaft für uns, nämlich: »Aha. Jetzt gerade brauche ich andere Menschen, um mich ganz zu fühlen.« Wir tun uns etwas Gutes, wenn wir uns zugestehen, dass wir uns gerade hilflos und niedergeschlagen fühlen. Erst dann können wir aktiv etwas verändern.

Hör auf deinen Körper

Auch bei einem zu viel hat unser Körper Antworten parat: Wir empfinden vermehrten Stress, Unruhe und das Gefühl von Überreizung und Müdigkeit. Häufig nehmen wir einen inneren Widerstand wahr, können aber gar nicht so genau sagen, woher er gerade kommt. Wenn es darum geht, das richtige Maß zu finden und achtsam mit der eigenen Zeit umzugehen, können die folgenden Fragen hilfreich sein: 

  • »Warum möchte ich diese Verabredung eingehen, aus Freude oder Pflichtgefühl?«
  • »Wie präsent bin ich momentan: Kann ich gerade für andere da sein oder bin ich häufig abgelenkt, zum Beispiel durch mein Smartphone?«
  • »Kann ich die Zeit mit anderen bewusst genießen oder bin in Gedanken schon beim nächsten Termin?«
  • »Mag ich diese Menschen eigentlich?«
  • »Bringen wir einander Lob, Dankbarkeit und Wertschätzung entgegen oder sind unsere Treffen häufig von Kritik oder dem Herumreiten auf negativen Erlebnissen geprägt?«

Zeit mit geliebten Menschen zu verbringen, schenkt uns im Idealfall neue Lebensenergie. Doch wenn wir nicht aufpassen, hetzen wir nur noch durchs Leben und wir können diese schönen Momente der Gemeinschaft gar nicht mehr genießen. 

Wenn wir all das in Betracht ziehen, stellen wir fest, dass unser Körper eigentlich ständig mit uns kommuniziert. Wirksame Methoden, täglich mit deinem Körper in Kontakt zu kommen, können neben den genannten Reflexionsfragen zum Beispiel auch Sport, Atemübungen, Body Scans oder Journaling sein.

3: Verteidige deine Freizeit mit allem, was du hast

Wie führst du eigentlich deinen Kalender? Ich habe bei mir beobachtet, dass ich mir Termine mit anderen immer eintrage. Ist ja klar: Wenn ich mit Freund:innen zum Essen verabredet bin, dann steht es zur jeweiligen Uhrzeit im Kalender. Meetings ebenfalls. Aber Termine mit mir selbst standen da bis vor Kurzem nie. Also habe ich das geändert. Zeit für mich ist jetzt ein Termin, den ich mir fest eintrage. Außerdem plane ich für Termine jeder Art absichtlich mehr Zeit ein, als sie eigentlich benötigen. Einfach deshalb, damit ich längere Verschnaufpausen habe, die ich mit mir selbst verbringen kann, statt zu hetzen. 

Wäre an der Stelle meines Me-Time-Termins eine Lücke im Kalender, würde ich mich selbst austricksen. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit würde ich wieder Ja zu einem Gefallen oder einer Anfrage sagen, obwohl ich eigentlich Zeit zum Nachdenken brauche. 

Ein Terminkalender für dich und deine (sozialen) Bedürfnisse

Behalte folgende Erinnerungen im Sinn, wenn du nun losziehst und ausprobierst, was für dich funktioniert: Bleib flexibel und passe dich deinen Bedürfnissen und Umständen an. Du wachst jeden Morgen in einer anderen Stimmung auf oder es treten unerwartete Ereignisse auf, die es erfordern, deine Pläne zu ändern. Lass dich davon nicht entmutigen, das gehört einfach zum Leben dazu. Die richtige Balance zu finden, ist ein sich wiederholender Kreislauf von Versuch & Irrtum. Es kann immer mal wieder vorkommen, dass du deine Grenzen völlig falsch einschätzt, weil du unter Druck stehst, deine eigenen Fähigkeiten testen möchtest oder du das Gefühl hast, dass dies von dir erwartet wird. Es kann auch passieren, dass du deine Grenzen zugunsten von geliebten Menschen überschreitest, weil sie dich gerade brauchen.

Das ist in Ordnung. Perfektion existiert nicht. Wichtig ist, dass du geduldig und achtsam mit dir selbst umgehst. Achte auf die Signale, die dir dein Körper jeden Tag als Feedback gibt und verwende die Reflexionsfragen aus diesem Artikel, um häufiger bei dir selbst einzuchecken. 

1 comment on »Beziehungen in Balance: So gelingen Me-Time und ein erfülltes Sozialleben«

  1. Wolfgang Dietrich

    Guter Artikel!
    Auch wenn ich alles schon mal gehört habe, finde ich die Erinnerung daran immer wieder wichtig.
    Danke! 🤗

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert