Entspannter Aufklären: So werden wir gute sexpositive Bezugspersonen

Schluss mit der Scham! Sexuelle Aufklärung ist mehr als nur dieses eine, berühmt-berüchtigte Gespräch unter vier Augen, sondern wichtige Präventionsarbeit und ein lebenslanger Prozess. Wie du mit Kindern über Sex sprichst und was wir als Erwachsene dabei über uns selbst lernen können.

Sex und Kinder? Da schrillen bei einigen von uns direkt die Alarmglocken. Wir denken entweder an Missbrauchsskandale und Übergriffe, oder daran, möglicherweise selbst etwas falsch zu machen: die kleinen Menschen im eigenen Umfeld zu überfordern und zu verstören – und, wenn wir sie nicht selbst gemacht haben, deren Eltern gleich mit. Schließlich wollen wir uns nicht ungefragt in die Erziehung einmischen.

Aber was, wenn das Thema einfach aufkommt? Kinder stellen im Schnitt bis zu 300 Fragen pro Tag. Und bei manchen kommen wir ganz schön ins Schwitzen. Dabei ist Sex doch eigentlich das Normalste der Welt, oder?

Niemand von uns wäre heute hier, hätten nicht sehr viele unserer Vorfahren sehr viel Sex gehabt. Wir alle sind sexuelle Wesen. Und zwar nicht erst urplötzlich und dann auch hauptsächlich im Teenageralter, sondern unser komplettes Leben lang, schon vor der Geburt, bis zum Tod. Männliche und andere Embryonen mit Penis haben schon ab der 16. Schwangerschaftswoche Erektionen im Mutterleib, weibliche werden schon mit sämtlichen ihrer Eizellen geboren – Frauen und andere Gebärende tragen in der Schwangerschaft also potenziell schon das Erbgut ihrer Enkelkinder in sich.

Woher kommen unsere Berührungsängste mit diesem Thema?

Die Sexualpädagogin und klinische Sexologin Magdalena Heinzl hat mit »Was kribbelt da so schön?« ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie Eltern und andere Bezugspersonen besser auf naseweise Kinderfragen reagieren können – eine Art Aufklärungsleitfaden für Aufklärende also. Sie sagt: Ein Großteil der Erwachsenen hat beim Begriff »Sexuelle Bildung« falsche Vorstellungen. Es geht dabei weder darum, Kindern zu erklären, wie man selbst Sex hat und welche Stellungen es gibt, noch dürfen wir kindliche Sexualität durch unsere »Erwachsenenbrille« bewerten. Die wesentlichen Unterschiede?

Kinder leben im Hier und Jetzt. Das Stück Schokolade muss sofort sein, nicht erst in einer halben Stunde oder in einem Jahr. Erst zwischen sechs und sieben Jahren lernen Kinder, Geschehnisse zeitlich logisch einzuordnen. Und: Kinder priorisieren nicht. Das Stück Schokolade ist genauso aufregend wie die Schaukel.

Nah an den eigenen Bedürfnissen

Präferenzen entstehen erst zwischen dem sechsten und dem zehnten Lebensjahr. Ersetzen wir Schokolade und Schaukeln jetzt zum Beispiel durch Selbstbefriedigung, erklären sich einige der für uns Erwachsenen herausfordernden Situationen von selbst. Kinder tun das, was sich für sie in diesem Moment intuitiv gut anfühlt – ohne gesonderte Priorität, Präferenz oder Rücksicht auf soziale Erwünschtheit.

Wie also geht gute Aufklärung?

Mit einem einmaligen Gespräch von Bienchen, Blümchen und »Wenn deine Eltern sich ganz lieb haben, kriegt Mama einen großen Bauch« hat das in der Realität oft wenig zu tun – und das ist eine gute Nachricht. Genau wie Sex ist auch sexuelle Bildung ein lebenslanger Prozess – der oft schon ganz von selbst angefangen hat. Denn: Jede Art, die Körperkompetenz und das Spüren, den Umgang und die Regulation von Emotionen zu fördern, ist Sexuelle Bildung. »Sexualität ist nicht nur Sex. Sexualität ist viel mehr. Sie hat mit der eigenen Identität zu tun, mit dem Körper, mit Gefühlen und auch mit zwischenmenschlichen Beziehungen« schreibt Magdalena Heinzl in ihrem Buch.

Wir können also quasi gar nicht nicht aufklären. Kindern dabei helfen, sich in Achtsamkeit zu üben, ist ein wichtiger Schritt. Das Dankbarkeits- und Gefühlstagebuch Ein gutes Gefühl unterstützt beim Erkennen und Benennen von Emotionen und ist so toll, dass ich es am liebsten auch einigen Erwachsenen schenken würde.

Denn ja, auch Scham ist ein gutes Gefühl – denn sie hat eine wichtige Hinweisfunktion. Gegen welche Konvention habe ich gerade verstoßen? Lohnt es sich, hier genauer hinzuschauen? Wem nutzt meine Scham? Einem Konzern, der mir Cellulitecreme verkaufen will und mir einredet, nicht beach body ready zu sein? Oder mir selbst, weil sie mich vor etwas beschützt, was ich eigentlich gar nicht möchte, mich darauf hinweist, wo ich noch ein unerfahren bin, vielleicht neugieriger zu werden?

Reflexion der eigenen Sexualbiografie

Hier kommen wir direkt zum nächsten Schritt für gute Aufklärung: Selbstreflexion und Biografiearbeit. Befreundete Eltern bezeichnen das Kinderkriegen oft als den größten Selbsterfahrungstrip überhaupt. Warum also nicht mal ganz bewusst in die eigene Sexualbiografie schauen?

Beim Aufklären unserer Kinder empfiehlt sich ein Blick in die eigene Sexualbiografie.
Aufklärende Selbstreflexion

Wie wurde ich selbst aufgeklärt? Wie ging meine Familie mit Nacktheit um? Wurden mir Dinge beigebracht, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt haben? Was hätte ich selbst von meiner Familie gebraucht oder gerne gehört? Fällt es mir heute leicht, über Sex zu sprechen? Wie fühlt sich Lust für mich heute an? Wie wohl fühle ich mich in meinem Körper? Und wie wohl mit meiner eigenen Geschlechterrolle?

Klingt herausfordernd, ist es auch. Aber es lohnt sich. Wie sehr, zeigt unter anderem eine Studie von 1975, die als »Baby X-Experiment« bekannt wurde und gerade sehr eindrücklich im Film »Feminism WTF« wiederholt wurde.

Die Rosa-Hellblau-Falle

Erwachsene, die mit einem Kleinkind spielen, wählen je nach der Kleidung des Kindes – blau oder rosa mit Schleifchen – unterschiedliches Spielzeug aus und behandeln das Kind anders. Das als Mädchen gelesene Kind wird dazu aufgefordert, einer Puppe die Haare zu kämmen, dem vermeintlichen kleinen Junge werden die technischen Aspekte des Baggers erklärt. Bis sich natürlich herausstellt: im rosa Schleifchenstrampler steckt ein kleiner Junge und umgekehrt.

Klingt nach Klischee, ist es auch – und zeigt, wie tief diese Stereotype noch immer in uns sitzen, und wie wir auch Kinder oft unbewusst kategorisieren und dementsprechend behandeln. Was aber, wenn wir so rollenkonformes Verhalten bei Eltern in unserem Umfeld beobachten – und es vielleicht noch mit generell eher reaktionären Werten einhergeht? Wie weit dürfen wir uns als die coolen Onkels, Tanten und sonstige Bezugspersonen einmischen?

Aufklärung ohne Kitsch und Klischee

Die eigene Offenheit in die Welt tragen

Im Podcast Ein gutes Gespräch habe ich mit Birte unter anderem über sexpositives Mentoring gesprochen. Darüber, wie man die eigene Offenheit in die Welt tragen und dadurch auch ein Vorbild für andere werden kann. Das Vorleben weniger konservativer Lebensentwürfe und Werte kann Kindern eine Orientierung geben – und dafür sorgen, dass sie in einem mit ihren neugierigen Fragen vielleicht eine offenere Ansprechperson finden, als bei ihren Eltern. Denn klar: niemand existiert in einem Vakuum.

Spätestens im Grundschulalter hat ein Großteil der Kinder schon pornografische Bilder gesehen. Jemandem, der einem nicht direkt das Handy wieder wegnimmt, erzählt man davon wahrscheinlich leichter als strengen Eltern. Und das ist gut so. Denn: die Befürchtung, man könne Kinder durch sexuelle Bildung überhaupt erst auf »dumme Gedanken« bringen, ist nicht nur falsch, sondern sogar politisch instrumentalisiert.

Kampfbegriff »Frühsexualisierung«

Parteien wie die AfD benutzen den Begriff »Frühsexualisierung«, um zu suggerieren, dass »unschuldigen« Kindern die »schuldige« Erwachsenensexualität aufzwingt, um Sexualpädagogik und Antidiskriminierungspolitik so zu diskreditieren, erklärt Magdalena Heinzl. »Dabei wird außer Acht gelassen, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen der erwachsenen und der kindlichen Sexualität gibt. Und dieser Begriff spricht Kindern ab, sexuelle Wesen zu sein, die ein Bedürfnis nach Lusterfahrungen und zärtlichen Gefühlen, körperlicher Neugierde sowie Bindungs- und Beziehungswünsche haben. Diese Annahme widerspricht nicht nur jeglicher wissenschaftlichen Evidenz,
sondern sie verhindert auch, dass Kinder in ihrer Selbstbestimmung angemessen gestärkt werden.«

Die Studienlage sagt ganz klar: Kinder, die angemessen aufgeklärt werden, haben nicht nur später Sex, als welche, die es nicht wurden, sie verhüten auch besser und werden so seltener ungewollt schwanger oder bekommen Geschlechtskrankheiten. Und sie werden seltener Opfer von sexualisierter Gewalt. Weil sie sich selbst besser spüren, ihre Geschlechsteile besser benennen können, und so schneller verstehen und Hilfe holen können, wenn ihnen etwas passiert, das nicht richtig ist. Sexuelle Bildung ist also Präventionsarbeit. Und sie kann wahnsinnig viel Spaß machen – und auch uns Erwachsenen noch viel über uns selbst beibringen.


Mehr zu diesem Thema hört ihr in Folge #25 von LVSTPRINZIP mit Theresa Lachner und Theresa Heinzl, hier und auf allen gängigen Podcast-Plattformen.

1 comment on »Entspannter Aufklären: So werden wir gute sexpositive Bezugspersonen«

  1. Katha Magdalena

    Super spannender Beitrag. Ich arbeite in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Ab dem kommenden Montag treffe ich mich wöchentlich mit einer Gruppe Mädels. Diese sind zwischen. 12 und 14 Jahre alt. Ziel ist es, die Mädels zu empowern, sexuelle Bildung anzubieten und deren Fragen zu besprechen. Kürzlich ging es z.B. um die Frage, ob Frauen welche sich freizügig kleiden an einer Vergewaltigung selbst schuld sind. Das war eine spannende Situation. Ich werde mir das oben genannte Buch besorgen. Vielen Dank für diesen Beitrag. 🙂

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