Selfcare statt Systemkritik? Das Geschäft mit der Happiness-Culture

Yoga eignet sich perfekt für Selfcare, solange es nicht zur Selbstoptimierung wird.
Das Statussymbol unserer Zeit: die innere Ausgeglichenheit 

Neulich stand ich im Supermarkt am Zeitschriftenregal und dachte mir: Ich gönne mir mal was. Mitten in der Pandemie ein Stück seichte Unterhaltung, warum eigentlich nicht? Ein Magazin zum Schmökern, das ich mit einer Tasse Tee auf dem Sofa genieße, die Katze auf meinen Füßen zusammengerollt. Soweit die Theorie. In der Praxis stand ich neben den Kassen, zwischen Grußkarten und Schokoriegeln, lauschte seichter Fahrstuhlmusik und überflog die Headlines der Magazine. Was ich las, waren Überschriften wie:

Das macht mich stark – Neue Talente, Ziele, Netzwerke: So findest du Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Ich kriege das hin! So bleibt das Leben gut, auch wenn es sich verändert.
Nur kein Stress! Neue Strategien gegen innere Unruhe.

Der beste Yoga Flow für mehr Fokus & Klarheit (z.B. im Job)
Nimm das Leben leicht. Wie du negative Gehirnreflexe austrickst – und so noch glücklicher lebst.

Zeitschriften-Cover sind ein guter Indikator für den herrschenden Zeitgeist. Was dort gedruckt wird, verkauft sich. Viele Menschen lesen diese Botschaften – und nehmen sie sich zu Herzen. Aber nicht nur im Print-Bereich, auch in den sozialen Medien boomt das Business mit Selbstfürsorge, Achtsamkeit und Yoga. Und die neue Sorge für sich selbst kann schnell teuer werden: Detox-Retreats in Öko-Hotels, Duft-Diffusoren mit Bio-Lavendelöl, vegane Yogamatten, Klangschalen für die Meditationsecke zuhause. Wir kaufen Trinkflaschen, die uns ermahnen, wann wir trinken und Glückstagebücher, die uns daran erinnern, wofür wir dankbar sein sollen.

Transformierung des Selbst durch Konsum – hier trifft Selfcare auf die kapitalistische Agenda. Die neoliberale Ethik treibt uns nicht nur dazu an, unsere berufliche Entwicklung und unseren Körper zu optimieren, um dem Leistungssystem immer besser und effizienter zur Verfügung zu stehen und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum durch vermehrten Konsum zu steigern – auch unser Innenleben ist jetzt Zielscheibe der Optimierungswut.

Eine heißt Badewanne, Tee und Duftkerzen. Selbstfürsorge oder Optimierung durch Konsum?
Eine Pause machen von zwanghafter Selbstfürsorge

Es reicht nicht mehr, stylisch angezogen zu sein und in einer Altbauwohnung mit Flügeltüren zu frühstücken. Auch unser Mindset, auch unsere Gefühle sollen vorzeigbar sein. Sie rücken mehr und mehr in den Fokus von Werbeindustrie und Medien. Dass mit dem Selfcare- und Selbstoptimierungsboom viel Geld verdient werden kann, ist klar. Weniger offensichtlich sind seine möglichen politischen und gesellschaftlichen Folgen, die sich auf uns alle auswirken.

Vom Zwang, glücklich zu sein

Finde dein „Higher Self“, schöpfe dein „volles Potenzial aus“, lebe dein „bestes Leben“ – Motivationssprüche von selbsternannten Life-Coaches und Magazinen arbeiten oft mit Superlativen. Sie besitzen eine hohe Anziehungskraft, weil sie die innersten Wünsche des Menschen nach Glück, Sicherheit und Lebendigkeit triggern. Und passen gleichzeitig bestens zu einem Wirtschaftssystem, in dem jede*r für ihr/sein Glück selbst verantwortlich sein soll und in dem stets das maximale Wachstum angestrebt wird – jetzt eben auch das der eigenen Seele. In der Masse, in der Webinare zur Persönlichkeitsentwicklung, Dankbarkeits-Apps und Happiness-Mantras den Markt fluten, sind sie Teil einer neuen Kultur, die sich in unseren ganz persönlichen Alltag ausbreitet.

Das neue, widerstandsfähige Mindset, das der moderne Mensch kultivieren soll, nennen die beiden britischen Soziologinnen Rosalind Gill und Laura Favaro „compulsory positivity“1 – also „obligatorische Positivität“ oder „Zwangspositivität“, ein Konzept, das seinen Ursprung in den Grundzügen der Positiven Psychologie hat. Die Positive Psychologie wurde 1954 von dem US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow begründet, seit den 1990-er Jahren erlebt sie einen Aufschwung. Im Gegensatz zur traditionellen Psychologie, die sich auf die Behandlung von Störungen und Erkrankungen fokussiert, befasst sich die positive Psychologie mit Aspekten wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, individuelle Stärken oder Vergebung.

Schriftzug "Be Happy" an der Wand - zwanghafte Positivität ist anstrengend.
So einfach ist es nicht

Warum ist das nun problematisch? Der Fokus auf die positiven Seiten des Lebens ist doch eine gute Sache? Problematisch wird das Ganze dann, wenn eine bestimmte emotionale Haltung zur gesellschaftlich gewollten Ordnung wird. Wenn diese Ordnung vorsieht, dass jede*r für das Gelingen des eigenen Lebens in erster Linie selbst verantwortlich ist – auf ganz individueller Ebene. Diese Entwicklung führt gesamtgesellschaftlich zur Erosion von sozialem Miteinander, Rücksichtnahme und Solidarität. Selbstoptimierung als Ersatz für soziale Verantwortung. Jede*r kämpft für sich allein.

Was durch das emotionale Agenda-Setting der Happiness-Culture entsteht, kann toxisch sein: Ganz natürliche Aspekte des Lebens – Rückschläge, Auf-der-Stelle-treten, Krankheiten, Trennungen, Ängste – werden als „Zeichen“ dafür interpretiert, dass man noch nicht positiv genug gedacht und zu sehr an alten, schädigenden Glaubenssätzen festgehalten hat. Die alleinerziehende, überforderte Mutter? Muss noch mehr Affirmationen sprechen. Der Mann mit Migrationshintergrund, der keinen Job findet? Hat noch nicht fest genug an sich geglaubt. Die Überbetonung der individuellen Verantwortung kann strukturelle Diskriminierung verschleiern.

Passen wir uns immer weiter an ein System an, das uns eigentlich nicht gut tut?

Werte wie Risikobereitschaft, Resilienz und das Streben nach Erfolg, die durch die Happiness-Culture kultiviert werden, sind laut Rosalind Gill2 die „richtigen“, die es braucht um in der neoliberalen Gesellschaft zu überleben. Von den Menschen wird erwartet, dass sie sich nicht unterkriegen lassen, selbst dann nicht, wenn die Dinge nicht so gut laufen. Sich Hilfe zu holen, ist dabei nicht verpönt – Therapie und Coaching gehören zum guten Ton, können aber in einem übergeordneten Kontext auch dazu dienen, sich an das System anzupassen oder zumindest Strategien zu entwickeln, darin besser zurechtzukommen. Die Positive Psychologie hat es keinesfalls geschafft, das Negative oder Pathologische aus der Psychologie zu entfernen, sondern hat, so Favaro und Gill3, ein neues Wertesystem geschaffen, das vorgibt, wie ein fortschrittlicher Mensch zu sein hat: Ehrgeizig, unabhängig, dynamisch, produktiv und flexibel. Begriffe, die mit dem neoliberalen Wertekodex bestens harmonieren.

Wenn nun der Erfolg oder Misserfolg des eigenen Lebens aber nur darauf zurückgeführt wird, dass wir nicht resilient genug sind oder unser Mindset noch nicht positiv genug ist, dann gerät leicht in Vergessenheit, dass eventuell nicht wir selbst das Problem sind, weil wir mit dem System nicht zurechtkommen – sondern dass wir mit dem System nicht zurechtkommen, weil es kritikwürdig ist.

Ein neoliberalistisches Wertesystem kann suggerieren: Wer nicht glücklich ist, macht etwas falsch.
Niedergeschlagen oder sozial isoliert? Muss wohl an einem selbst liegen…

Das Patriarchat, Turbokapitalismus und Misogynie existieren. Formen von Diskriminierung wie Rassismus, Klassismus oder Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung, körperlicher und/oder geistiger Beeinträchtigung oder Religion sind real. Wut über diese Missstände unseres Gesellschaftssystems werden in der Selbstoptimierungsszene schnell als Opfer-Haltung verunglimpft. So viel „negative Energie“ sorge nur dafür, mehr Probleme anzuziehen und die eigene energetische Schwingung zu ruinieren. Was all diesen Selbstoptimierungsbotschaften zugrunde liegt, ist die Annahme, dass wir die Wahl haben – und unsere Lebensumstände nur Ergebnis unserer Gedanken sind.

Die britische Kulturtheoretikerin und Feministin Angela McRobbie schreibt in ihrem Buch „Top Girls“4: „In einer Lifestyle-Kultur ist Wahlfreiheit allerdings ein einschränkender Faktor, denn das Individuum muss in der Lage sein, die richtige Wahl zu treffen.“ Diejenigen, denen es nicht gelingt, ihr persönliches Schicksal durch reine Willenskraft zu lenken, so McRobbie, landen hinter neuen Formen sozialer Ausgrenzung. Alte Machtbeziehungen werden durch neue ersetzt.

Wie können wir die Balance finden zwischen Selfcare und Systemkritik?

Müssen wir jetzt auf unseren Yoga-Flow verzichten, weil er uns tauglicher für die neoliberale Ordnung werden lässt? Natürlich nicht. Wir alle leben in unserem gegenwärtigen System und werden es nicht über Nacht verändern. Sehr wohl aber Tag für Tag. Wie so oft im Leben muss es kein Entweder-oder sein: Wir dürfen uns sowohl achtsam um uns selbst kümmern als auch ganz klar Missstände benennen. Wir können Yoga machen und eine Petition unterschreiben. Und vor allem sollten wir uns nicht vereinzeln lassen, auch nicht durch die Pandemie. Online-Petitionen, Zoom-Meetings mit Gleichgesinnten, der Beitritt in einen Interessen-Verein – Protest und gesellschaftliche Einmischung sind auch mit Abstand möglich. Was auf politischer Ebene gelöst werden kann und muss, darf nicht auf die Schultern jede*r einzelnen abgeschoben werden.

Und wenn uns manchmal die Kraft fehlt, sowohl für Yoga als auch für die Petition? Dann ist auch das völlig in Ordnung. Manchmal geht es nur darum, den Kopf über Wasser zu halten oder zumindest ruhig durch die Nase zu atmen.

An dem Tag im Supermarkt habe ich übrigens genau das getan – tief durchgeatmet und keines der Magazine gekauft. Zuhause habe ich mich aufs Sofa gelegt und begonnen, diesen Artikel zu schreiben. Und habe im Anschluss meine Pilates-Matte ausgerollt. Solange das System besteht, dürfen wir uns bemühen, darin möglichst gut zurechtzukommen – und es gleichzeitig kritisieren und zu verbessern suchen.


1: ‘Pump up the positivity’ Neoliberalism, affective entrepreneurship and the victimhood/agency debate, Gill, Rosalind, Favaro, Laura (2020)
2: The affective, cultural and psychic life of postfeminism: A postfeminist sensibility 10 years on, Gill, Rosalind (2017)
3: Gill, Rosalind, Favaro, Laura (2020)
4: Top Girls, McRobbie, Angela (2010)

17 comments on »Selfcare statt Systemkritik? Das Geschäft mit der Happiness-Culture«

  1. Danke, danke, danke … genau den Artikel habe ich heute gebraucht.

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