Konflikte ohne Chaos: 5 Tipps, wie du richtig streitest

Streit ist Stress. Aber wie viel davon müssen wir in engen Beziehungen aushalten und welche Diskussionen lohnen sich überhaupt? Wie man richtig streitet, ohne sich im Gefühlschaos zu verlieren.

Auch beim Streiten lohnt sich Selbstfürsorge
Auch beim Streiten lohnt sich Selbstfürsorge

Die Pandemie hat unser Verhältnis zu Diskussionen verändert. Wir sind vorsichtiger geworden. Wägen länger ab, wie viel Energie wir gerade übrig haben. Fragen uns, ob eine verbale Auseinandersetzung wirklich Gutes bringen oder eher die Beziehung zu unserem Gegenüber beschädigen könnte. »Pick your battles«1, die bewusste Entscheidung für oder gegen einen verbalen »Kampf« – auch das ist Selbstsorge. Aber woran erkennen wir eigentlich, welche Diskussion sich lohnt? Wie finden wir die Balance zwischen dem Bedürfnis nach harmonischer Zugehörigkeit und dem Bedürfnis, für unsere Werte und Überzeugungen einzustehen? Wie lässt sich streiten, ohne dabei Angst um unsere Beziehung zu haben? Die folgenden fünf Tipps helfen dir, Klarheit zu finden.

Tipp 1: Check deine Ressourcen

Verwandtschaft, Freundschaft oder partnerschaftliche Liebe allein reichen nicht aus, damit wir in Diskussionen wirklich gehört werden und alles friedlich verläuft. Wir kommen nicht darum herum, zu analysieren, ob wir gerade genug Ressourcen für eine Auseinandersetzung haben. Stell dir ganz profane Fragen: Habe ich genug geschlafen und gegessen? Habe ich gerade keine Schmerzen oder andere stark einschränkende Körpersymptome? Kann und möchte ich mir mindestens eine Stunde Zeit nehmen, um mich dem Thema und meinem Gegenüber ernsthaft zu widmen? Fühle ich mich psychologisch einigermaßen sicher?

Das Konzept der »psychologischen Sicherheit«2 hat die Psychologin Amy Edmondson entwickelt: Nur wenn wir psychologisch sicher sind, haben wir das Vertrauen, dass wir Fragen, Unsicherheiten oder Fehler aussprechen und eingestehen können, ohne Angst vor Strafe oder Demütigung zu haben. Fühle ich mich also heute – und ganz generell im Kontakt mit meinem Gegenüber – gefestigt oder habe ich Angst davor, meine Meinung und meine Bedürfnisse zu kommunizieren? 

Tipp 2: Check deine Glaubenssätze

Wenn du diesen Text liest, ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass du ein Mann bist. Die meisten Männer werden nämlich nicht konfliktscheu sozialisiert: Sie dürfen schon früh laut sein und viel Raum einnehmen. Sie raufen und rangeln und spielen danach miteinander, als wäre nichts passiert – und in ihrer Welt stimmt das auch. Der vermeintliche Konflikt des Raufens bedroht weder ihre Freundschaften noch ihr Selbstbild. Weiblich gelesene Personen aber sind von klein auf mit dem Klischeevorbild des »lieben Mädchens« konfrontiert. Sie sollen leise, zurückhaltend und immer freundlich sein.3

Alle Gefühle dürfen gefühlt und kommuniziert werden

Auch eine schüchterne oder ängstliche Veranlagung, das Aufwachsen mit Eltern oder Großeltern, deren Autoritätsverständnis keinerlei Widerspruch vorsieht, oder eine toxische Beziehungserfahrung können dafür sorgen, dass sich Konflikte im Erwachsenenalter bedrohlich anfühlen. Eine gesunde Beziehung aber wird durch Diskussionen oder Grenzsetzungen nicht bedroht. Zum achtsamen Streiten gehört auch, sich bewusst gegen den Glaubenssatz zu entscheiden, dass wir automatisch als unhöflich/ unsympathisch/ nicht liebenswert wahrgenommen würden, nur weil wir für unsere Bedürfnisse und Überzeugungen einstehen. 

Tipp 3: Leg deine Hausordnung fest

Liebe ist bedingungslos; Beziehungen dürfen Grenzen haben. Mehr noch: Wir brauchen im Alltag Grenzen, um uns sicher fühlen zu können und genug Kapazitäten für enge und bereichernde Beziehungen zu haben. Nimm dir Zeit, um zu notieren, welche Themen dir wirklich wichtig sind, welche verbalen »Kämpfe« du bereit bist auszufechten, auch wenn sich die Meinungsverschiedenheit unbequem anfühlt – und wo genau deine Grenzen verlaufen. Welche Worte oder Verhaltensweisen sind für dich inakzeptabel?

Diese Regeln sollten immer und für alle gelten. Du musst dich nicht abwerten lassen, nur weil dein Gegenüber dir nahe steht; du solltest aber auch nicht willkürlich Grenzen verkünden, wenn du gerade von deinem Gegenüber genervt bist. Lege dir für den Notfall kurze Generalantworten fest, die du auch in emotional herausfordernden Situationen leicht abrufen kannst, zum Beispiel: »Wenn du mich abwertest, werde ich das Gespräch beenden.« 

Wichtig: Kommuniziere deine Hausordnung nicht erst, wenn’s brennt, sondern nutze ruhige Momente, um darüber zu sprechen, was für dich geht und was nicht. Rechtfertige oder entschuldige dich dabei nicht für deine Grenzen; du hast ein Recht darauf, gut für dich zu sorgen. 

Tipp 4: Halte Ausschau nach den apokalyptischen Reitern

Wir streiten mit den Menschen, die uns nahe stehen, oft über ähnliche Themen. Der Vorteil dabei: Wir können uns vorbereiten. Nimm dir bei der nächstmöglichen Gelegenheit – zum Beispiel, während du diesen Text liest – etwas Zeit, um die Situation zu analysieren. Wie laufen Konflikte zwischen dir und deinem Gegenüber üblicherweise ab? Welche Rollen nehmt ihr dabei ein? Wer greift an, wer weicht zurück? 

Der Psychologe, Paar- und Familientherapeut John Gottman hat vier toxische Verhaltensmuster in Beziehungen beschrieben, die sogenannten »apokalyptischen Reiter«4, in Anlehnung an die biblische Johannes-Offenbarung, in der apokalyptische Reiter den baldigen Weltuntergang ankündigen. Die vier Verhaltensmuster sind unfaire Kritik (z.B. »Es ist immer das Gleiche mit dir« oder »Du wirst dich nie ändern«); reflexhafte Abwehr, statt zuzuhören (z.B. »Fang erstmal bei dir selbst an«); Verachtung sowie Rückzug bzw. Mauern. Wer mauert, wirkt nach außen emotionslos und desinteressiert; tatsächlich aber steht die Person unter maximaler Anspannung und hat einen ungesund erhöhten Herzschlag.5

Je stärker ein Gefühl ist, desto mehr verengt es unsere Wahrnehmung: Wir landen im emotionalen Tunnelblick. Es fühlt sich so an, als wäre die akute Situation weder vergänglich noch veränderbar. Als würde dieser Konflikt für immer weitergehen. So steigt der innere Druck immer weiter, bis nur noch Flucht oder verbale Eskalation möglich erscheint.

Auch im Streit kann man sich nahe bleiben
Kennst du deinen Streittyp?

Notiere für dich, welche Formulierungen oder Verhaltensweisen bislang zuverlässig dafür gesorgt haben, dass ein Streit eskaliert, und körperliche Frühwarnzeichen: Krampft zum Beispiel dein Kiefer oder Nacken, wenn deine innere Anspannung wächst? Fühlt sich dein Magen heiß an? Ballst du die Fäuste? Notiere, welches Gefühl genau in dir ausgelöst wird – ist es beispielsweise eher Verunsicherung? Hilflosigkeit? Einsamkeit? Verlustangst? Beschämung? – und was du in solchen Situationen brauchen würdest. Welche Worte und welche Verhaltensweisen würden dir guttun – sowohl deine eigenen als auch die deines Gegenübers? Ist euer Konflikt so schwerwiegend, dass ihr eine oder zwei Sitzungen bei einer Therapeutin oder einem Familienberater brauchen könntet, um mit mehr Ruhe nach Wegen aus der Eskalationsschleife zu suchen? Oder würde dir einfach nur ein kurzer Spaziergang helfen, damit deine Wut verpuffen und dein Kopf aufklaren kann? Oder eine Umarmung, um dich daran zu erinnern, dass du dein Gegenüber wegen dieses Streits nicht verlieren wirst?

Falls du auf diese Fragen spontan keine Antwort hast, ist es eine umso wichtigere Übung: Je besser du dich kennst, je klarer du weißt, welche Verhaltensweisen – eigene, aber auch die anderer – für dich hilfreich und gesund sind, desto besser kannst du für dich sorgen.

Tipp 5: Mach nicht dein Gegenüber, sondern das Verhaltensmuster zum Feind

Erinnere dich bewusst daran, wie viel Schönes du mit deinem Gegenüber schon erlebt hast. Welche Eigenschaften du an ihr oder ihm schätzt. Wie oft ihr gemeinsam lachen konntet. Wie oft du dich von ihr oder ihm gesehen und gehalten gefühlt hast. Welche schweren Momente mit ihr oder ihm leichter wurden. Nimm dieses Gefühl mit ins nächste Gespräch. Frag zuerst, ob dein Gegenüber gerade Ressourcen für eine Unterhaltung hat. So zeigst du nicht nur Respekt, sondern kannst auch abklopfen, ob dieses herausfordernde Gespräch Erfolgschancen hat. 

Wenn sich dein Gegenüber Zeit nehmen kann und möchte, bring zum Ausdruck, dass sie oder er dir sehr wichtig ist und dass du gern eure Beziehung verbessern möchtest. Die Gesundheitsforschung zeigt, dass Verhaltensänderungen am ehesten möglich werden, wenn Vorteile des neuen Wegs im Mittelpunkt stehen statt Nachteile des bisherigen Verhaltens.6 Frag nach den Wünschen deines Gegenübers: Was braucht sie oder er, um sich mit dir wohl und sicher zu fühlen? Welche Verhaltensmuster hat sie oder er an sich und dir beobachtet, die immer wieder zu einer Eskalation des Gesprächs führen? Welche Änderungen im Miteinander sind für euch beide vorstellbar? 

Streiten kann verbinden
Streiten kann verbinden

Könnt ihr euch beispielsweise darauf einigen, das bisherige Verhaltensmuster als Feind zu begreifen, der eure Beziehung bedroht, und gemeinsam, als Team, einen neuen Weg zu finden?7 Könnt ihr gemeinsam die »positiven Handlungssprachen« der Gewaltfreien Kommunikation8 üben, also nicht drauflos kritisieren, sondern konkrete Alternativen anbieten und als Bitte formulieren? Statt zu schimpfen, »ich will, dass du endlich aufhörst, mich immer zu unterbrechen«, ließe sich beispielsweise formulieren: »Mir ist sehr wichtig, dass ich ausreden darf. Hast du gerade genug Ruhe dafür oder sollen wir das Gespräch lieber vertagen?« Könnt ihr euch auf ein Codewort einigen, wenn einer von euch bemerkt, dass sich im Gespräch der Ton verschärft? Welches Verhalten soll das Codewort einläuten? Da kann ein gemeinsamer Spaziergang, ein bewusster Themenwechsel, eine Unterbrechung des Gesprächs oder sogar eine Umarmung sein.

Ein Codewort fühlt sich für dein Gegenüber möglicherweise technisch und fremd an. Hier kann es helfen, das Ganze als Experiment, als Spiel zu betrachten: Ihr probiert zwei Wochen lang aus, ob das Codewort positive Effekte hat, und setzt euch danach zusammen, um zu evaluieren, ob etwas ganz anderes eurer Beziehung besser tut. So kann aus Meinungsverschiedenheiten auch Positives und Verbindendes erwachsen – für uns selbst und für unsere Beziehungen. 

Wichtig: Ungute Gefühle wie Unsicherheit und Angst gehören am Anfang dazu. Eine Verhaltensänderung ist harte Arbeit. Unser Gehirn liebt Gewohnheiten: Bis zu 50 Prozent unseres Handelns im Alltag werden laut dem Sozialpsychologen Bas Verplanken durch sie bestimmt. Der Neurowissenschaftler Wolfram Schultz nennt Gewohnheiten sogar »kleine Süchte«9. Deswegen sollten wir uns kleine Ziele, wie zum Beispiel das Ausprobieren eines Codeworts für zwei Wochen, setzen, und uns für kleine Erfolge unbedingt belohnen, damit die neue Gewohnheit positiv in uns verankert wird. 

Exkurs: Ausschlusskriterium für achtsames Streiten – das Internet

Seit einigen Jahren heißt es allerorten, dass Online-Diskussionen wichtig wären: Stille Mitlesende müssten von der Demokratie überzeugt werden. Bloß: Das Narrativ der »stillen Mitlesenden« ist ein Lobby-Produkt. Die Tech-Giganten verdienen nicht nur an radikalen Botschaften, die dank plattformeigener Empfehlungsalgorithmen Millionen erreichten, sondern auch an jeder sinnlosen Online-Debatte: Hauptsache, wir bleiben so lange wie möglich online – und sehen dabei jede Menge Werbung. 

Klar, es fühlt sich gut an, den eigenen, auf dem Klo runtergetippten Wutkommentar zur politischen Arbeit zu deklarieren. Das funktioniert aber nur, weil »stille Mitlesende« uns nicht widersprechen. Wir werden nie erfahren, ob unsere Worte vielleicht alles schlimmer gemacht haben – und die Wahrscheinlichkeit dafür ist hoch. Sobald wir nämlich unser Gegenüber weder hören noch sehen können, spüren wir soziale Regeln kaum noch. Deswegen eskalieren Online-Diskussionen messbar schneller. Die Psychologie nennt das »Online Disinhibition Effect«10.

Echte Chancen, gehört zu werden, haben wir nur, wenn unsere Meinung für unser Gegenüber Gewicht hat.


1: Parikh, Rima: Pick your battles. In: The New Yorker, 19. Mai 2022.
2: Edmondson, Amy: The Fearless Organization. Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth, Hoboken 2019.
3: Trunk, Miriam: “Wenn niemand sagt, dass du schwierig bist, machst du etwas falsch”.
4: TED Podcast “Re:Thinking with Adam Grant”, The science of healthy relationships with John and Julie Gottman, 13. Dezember 2022.
5: Gottman, John: The 6 Things That Predict Divorce, in: The Gottman Institute Blog.
6: Shen, Lijiang (2015): Antecedents to psychological reactance. The impact of threat, message frame, and choice. In: Health Communication 30(10), S. 975-985.
7: Bradley, Brent; Furrow, James: Emotionally focused couple therapy for dummies. Hoboken, New Jersey, 2013, S. 123 f.
8: Rosenberg, Marshall B.: Speak Peace in a World of Conflict. What You Say Next Will Change Your World, Encinitas, CA, 2005, S. 41-45.
9: Zeug, Katrin: Mach es anders!, in: ZEIT ONLINE, 17. Februar 2016.
10: Suler, John: The Online Disinhibition Effect, in: CyberPsychology & Behavior 7(3), 2004.

Kategorien Achtsamkeit Mentale Gesundheit Selbsthilfe

Dana Buchzik ist Journalistin und Kommunikationsberaterin mit den Schwerpunkten Radikalisierung, Diskussionskultur und gesunde Grenzsetzung. Im Januar erschien ihr Buch „Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können". Instagram Buch

2 comments on »Konflikte ohne Chaos: 5 Tipps, wie du richtig streitest«

  1. Super gut, danke <3

  2. Danke dir für deine Worte und Ratschläge! Sie kommen im richtigen Moment.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert