Warum wir uns von Ideen verabschieden sollten und ich keine Leitz-Ordner mehr verwende

Eine ganze Wohnung voller Zeitungsstapel

Vor ein paar Jahren habe ich einen guten Freund auf seinem Weg aus dem Messie-Chaos in seiner Wohnung begleitet. Es handelte sich nicht um einfache Unordnung oder ein wenig Schmutz, sondern um eine Situation, in der er ernsthaft Hilfe brauchte. Er wendete sich an einen Messie-Hilfeverein und ordnete mit professioneller Unterstützung über mehrere Monate seine Wohnung und sein Leben. Regelmäßig kam eine Psychologin, die ihn beim Aufräumen unterstützte. Ich durfte bei einem dieser Termine dabei sein, stellte viele Fragen und hörte zu. Sie erzählte eine Anekdote aus ihrer Arbeit:

Die Mutter eines erwachsenen und alleine wohnenden jungen Mannes rief beim Messie-Hilfeverein an und bat um Hilfe für ihren Sohn. Er hatte die ganze Wohnung voller Zeitungsstapel. Man konnte kaum noch treten. Bei der Erstbesichtigung mit einem Team des Vereins erklärte er zwischen Bergen von Papier sitzend, dass er später Autor werde und die Zeitungen noch alle lesen müsse für das Buch, das er dann schreibe. Er war fest davon überzeugt. Nein, die Zeitungen müssten alle bleiben. Ihm konnte man nicht helfen. Denn, so führte die Psychologin aus, es gehe bei Ordnung nicht einfach um das Auf- und Umräumen, sondern vor allem darum, sich von Ideen zu verabschieden.

Die Geschichte traf mich, denn ich dachte daran, wie zu Hause dutzende Leitz-Ordner mit Kopien aus meiner Studienzeit standen. Oft haben Dozent*innen Lesematerialien als Kopien ausgegeben. Man konnte sich auch mehr oder weniger legale PDFs von Uni-Server ziehen und ausdrucken. Oder man stellte sich selber in die Bibliothek und kopierte all die Bücher und Textstellen, die man für relevant hielt. Ein wissenschaftliches Sammeln, das nicht selten die eigentliche Lektüre durch den Besitz von Text auf Papier ersetzte.

Wer weiß, ob ich sie noch einmal brauchen würde?

Und so endete das Studium, die Ordner aber blieben. Sie waren eben da. Ich behielt sie, denn es waren so viele kluge Texte und wer weiß, ob ich sie noch einmal brauchen würde? Allein jetzt geht mir der Gedanke durch den Kopf, dass doch Umberto Eco mal etwas zum Sammeln von Texten auf Kopien geschrieben hat, oder? Hatte ich da nicht eine Kopie von? Aber eigentlich, ich muss ehrlich sein, sind die Kopien meine Version der Zeitungsstapel. Es sind gesammelte Texte für ein Vielleicht in der Zukunft. Oder besser: Sie waren es. Denn ich bin nach Hause gefahren und habe gehandelt. Nein, ich habe die Texte nicht weggeworfen. Ich habe die Ordner nach und nach mit ins Büro genommen, mit einem schnellen Einzugsscanner eingescannt, in PDFs umgewandelt und dann beruhigt ins Altpapier gegeben.

Es wäre konsequenter gewesen, die Texte einfach direkt zu entsorgen. Sicher gibt es irgendeinen Zen Cleaning Guide, der empfiehlt, kompromisslos zu entsorgen, um sich von Lasten zu befreien. Aber man muss nicht hart mit sich sein, um Ordnung zu schaffen. Man sollte nur versuchen, ehrlich zu sein. Werde ich dieses eine Projekt jemals machen? Werde ich die Texte lesen? Das Buch schreiben? Das große Projekt bauen? Ich habe mich von einer Idee verabschiedet, so dass ich den Ordnern nicht mehr erlaubt habe, Wohn- und Denkraum im Alltag einzunehmen. Sie mussten Platz machen und schufen zugleich Raum für neue Möglichkeiten. Doch gleichzeitig, und das ist auch wertvoll, gab es einen Weg, sich die alte Idee offenzuhalten. Wäre es jetzt wichtig, könnte ich den Eco-Text in den PDFs suchen. Ich lasse es sein, so wichtig ist es nicht. Aber mich beruhigt die Tatsache, dass ich es könnte. Es ist wie mit dem Spickzettel in der Schule: Man musste ihn nur dabei haben, um selbstsicherer zu sein. Man kann sich oft von Dingen verabschieden, aber zugleich Arbeitsmittel finden, die zum eigenen Alltag passen.

Und so sind Ordner eigentlich generell etwas, was nicht zu mir passt. Zu mehr als einem einmaligen Abheften und Rumstehenlassen kann ich sie kaum benutzen. Ich finde einfach nicht die Muße, einen Ordner aus dem Regal zu nehmen, etwas zu lochen, den Ordner zu öffnen, abzuheften und den Ordner zurück ins Regal zu stellen. Oder gar den Ordner wieder aus dem Regal zu nehmen, um etwas nachzuschlagen. Das wird einfach nicht passieren. So bin ich. Andere sind anders. Es wäre falsch, mich zu verbiegen, mich eine Weile damit zu quälen, die Ordner so zu nutzen, um es dann doch wieder sein zu lassen. Von einer Ordnungs-Diät mit Jo-Jo-Effekt hat niemand etwas.

Ordner sind nicht mehr Teil meines Lebens

Stattdessen fand ich eine Arbeitsroutine, die gut zu mir passt: Hängeregister. Sie sind nicht so sehr verschieden von Stehordnern. Aber sie erlauben es, einfach von oben etwas in einen Hängeordner zu schieben, ohne ihn überhaupt nur rauszuziehen. Und so lasse ich im Alltag zeitnah Papiere zu Versicherungen, Kündigungsschreiben, Mietsachen usw. in den jeweils passenden Ordner verschwinden. Einfach, weil es so schnell geht, dass ich weniger Zeit dafür verbrauche, es zu tun, als drüber nachzudenken.

Wenn ich lese, was ich hier schreibe, merke ich: Ich habe mich von Stehordnern verabschiedet. Es gibt noch ein paar mit Steuerunterlagen. Zehn Jahre lang muss ich sie aufbewahren und ich überlege schon, wie ich damit in Zukunft kreativ umgehe. Aber sonst sind Ordner nicht mehr Teil meines Lebens. Ach, Moment, da ist noch der eine Ordner mit einer Briefmarkensammlung aus meiner Kindheit. Falls ich mal wieder die Zeit habe, mich mit Briefmarken zu beschäftigen! Da der Ordner jetzt wohl 25 Jahre (in Worten: fünfundzwanzig) unangetastet rumsteht, sollte ich vielleicht auch hier einmal einer Idee ein Ende setzen. Braucht jemand Briefmarken aus der DDR?

Doch Ordner sind nichts Schlechtes. Ich kenne Menschen, die Ordner lieben. Die gerne lochen, abheften und ordentlich die Ordnerrücken beschriften. Die sie auch wieder aus dem Regal nehmen, um etwas nachzulesen. Früher habe ich die Menschen benieden. Jetzt weiß ich: Man muss nur seinen eigenen Ordnungsstil finden. Und, ja, sich auch von Ideen verabschieden.

Dies ist einer von elf Gastartikeln aus Ein guter Plan 2018

Kategorien Eine gute Idee

Dein Autor des Vertrauens war: Caspar Clemens Mierau Caspar Clemens Mierau, besser bekannt als @leitmedium, arbeitet als technischer Berater in Berliner Startups, schreibt als freier Autor, bloggt sich auf vierpluseins.wtf das Elternsein von der Seele und hat auf leitmotiv.cc den entspanntesten Podcast der Welt. Und hat diese eine Idee, endlich seine Dissertation fertig zu schreiben.

6 comments on »Warum wir uns von Ideen verabschieden sollten und ich keine Leitz-Ordner mehr verwende«

  1. Briefmarken aus der Ddr könnten bei Sammlern noch was wert sein. Wir haben über Kleinanzeigen DDR Spielzeug verkauft. Ging gut weg.

  2. Passt genau! 🙂 Seitdem ich vor ein paar Jahren auf Hängeregister umgestellt habe, geht mir das “Wegsortieren” ebenfalls leichter von der Hand und auch das Finden fühlt sich weniger weniger aufwändig an. Manchmal braucht es eben nur das richtige System und gar nicht so sehr einen radikalen Schritt. Wobei die Inhalte meiner Ordner aus Studienzeiten vor ca 1 Jahr mit großem Plumps in die Altpapiertonne gerumst sind. Neben dem Gefühl etwas ehrloses zu tun ( die Stunden an Kopierern!!!!!) überwog zum Glück die Erleichterung. Stattdessen habe ich jetzt 3 Unzugskisten voller leerer Ordner auf dem Dachboden. 🙂 Loslassen ist eben immer ein Prozess!

  3. Super Idee, diese Hängeordner.
    Das abheften selbst finde ich nicht schlimm, allerdings finde ich die Motivation höchstens quartalsweise und bis dahin herrscht um meinen Schreibtisch das Chaos.
    Vielleicht schaffe ich es so ja, die ganzen bezahlten Rechnungen und anderen Kram, den man halt aufheben muss verschwinden zu lassen.
    Danke für den Tip. Sie sind nicht allein!

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