Wutattacken und Begeisterungsstürme – Hilf deinem Kind im Umgang mit Emotionen 

Kinder werden von Gefühlen regelrecht überrollt. Eltern können dabei helfen, Emotionen zu erlernen und einzuordnen

Kennst du das auch? Es ist Montag morgens, nach einem gemütlichen Wochenende stehen alle Familienmitglieder in der Garderobe und wollen gleich los.  

Und dann passiert es: Der Große bekommt die Jacke nicht zu, weil sich der Reißverschluss im Stoff verhakt hat. Für uns Erwachsene ist das nur eine Lappalie, über die wir nicht weiter nachdenken. Ganz anders sieht es für das Kind aus. Es wird in Sekundenschnelle von einer Welle an Emotionen überschwemmt, der es nichts entgegenzusetzen hat. Diese Ohnmacht führt zu einer Riesen-Tobsuchtsattacke mit Schreien, Stampfen und Schimpfen. 

Situationen wie diese gibt es in allen Familien zuhauf. Das Anziehthema gehört sicherlich zu den Wutattacken-Klassikern. Als Elternteil fragt man sich dann oft: Wie kann das Kind von jetzt auf gleich plötzlich so von seinem Gefühl übermannt werden?  

Diese kindlichen Kurzschlussreaktionen sind ein Zeichen dafür, dass das Kind mit seinen Emotionen und der Situation überfordert ist. Aber was genau passiert mit deinem Kind, und wie kannst du es am besten unterstützen? Der Schlüssel dazu liegt im kindlichen Umgang mit Gefühlen.  

Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt

Als Erwachsene sind wir in der Lage, mit der Flut von Eindrücken und Emotionen umzugehen, egal ob es jetzt gute oder negative sind. Kinder müssen erst noch lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Der Umgang mit guten Gefühlen scheint da auf den ersten Blick nicht so herausfordernd. Wenn dir dein Kind vor Begeisterung um den Hals fällt, und die Kinderaugen am Geburtstag leuchten, freust du dich natürlich mit. Kopfzerbrechen bereitet Eltern eher der Umgang ihrer Kinder mit frustrierenden und unangenehmen Gefühlen. 

Die eigenen Gefühle früh einordnen lernen - dabei können Eltern eine große Hilfe und Vorbild sein.
Die eigenen Gefühle früh einordnen lernen – dabei können Eltern eine große Hilfe und Vorbild sein.

Wer sein tobendes Kind schon mal aus der Quengelzone im Supermarkt huckepack zum Auto tragen musste, weiß worum es geht. Oder wenn ein einfaches Brettspiel zur Herausforderung wird, weil sofort alles quer durchs Wohnzimmer fliegt, sobald das Kind verliert. Die meisten Eltern sind also leidgeprüft und wissen nur zu gut, wie schnell und stark Frust und Wut über ihre Kinder hereinbrechen können. 

Es ist natürlich nicht so, dass uns Erwachsene nie etwas aus der Ruhe bringen würde. Aber zumindest in der Theorie wissen wir, wie wir unseren Mitmenschen unsere Gefühle einigermaßen adäquat vermitteln können.  

Es gibt nämlich ein besonderes Toolkit, das unser Gehirn verwendet, um unsere Gefühle zu regulieren und unser Handeln sozialverträglich anzupassen. In der Hirnforschung und Neurowissenschaft bezeichnet man das als exekutive Funktionen. Gemeint ist im Prinzip die Impulskontrolle. Die besteht aus drei Bereichen:

  1. Mit Hilfe der Reaktionshemmung oder auch Inhibition können wir einer impulsiven Reaktion einen Riegel vorschieben und diese unterdrücken. Dann bleibt Zeit zum Nachdenken und Entscheiden, welche Reaktion angemessen ist. Das fehlt Kindern offensichtlich noch häufig. 
  2. Auch die Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses spielt eine große Rolle. Damit werden Informationen gespeichert, verstanden und verarbeitet. Im Arbeitsgedächtnis liegt auch der Schlüssel zum Planen der eigenen Handlungen. Das ist entscheidend dafür, dass Kinder mit einer Emotion bewusst umgehen können. 
  3. Zuletzt ist auch die Neuausrichtung der Aufmerksamkeit ein wesentliches Werkzeug. Mit dieser Fähigkeit sind Kinder in der Lage, von unangenehmen Emotionen abzulassen. Nur so kann ein Kind die Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zuwenden und seine negativen Emotionen selbstständig überwinden.
Im Kinderalltag ergeben sich die ersten Begegnungen mit den eigenen Emotionen. Und Katzen.
Im Kinderalltag ergeben sich die ersten Begegnungen mit den eigenen Emotionen. Und Katzen.

Studien belegen, dass Kinder bis ins Jugendalter diese exekutiven Funktionen erst Stück für Stück erlernen und trainieren müssen. Das beginnt etwa mit dem ersten Lebensjahr, wenn die Kinder sich und ihre Umwelt differenzierter wahrnehmen. Ab etwa drei Jahren lernen die Kleinen dann noch mal viel dazu, was die verschiedenen Aspekte der Impuls- und Verhaltenskontrolle angeht. Sie erkennen, wenn andere traurig sind, und können trösten und helfen. Sie haben auch schon gelernt, dass es nicht okay ist, anderen weh zu tun, um den eigenen Willen durchzusetzen. In der Praxis gelingt das natürlich nicht immer, wie viele Eltern wissen. 

Emotionsverständnis: Warum müssen wir das alles lernen? 

Kinder und Jugendliche befinden sich also in einer Trainingsphase, in der nicht alles glatt läuft. Rückschläge sind vorprogrammiert und völlig okay. Das ist wichtig im Kopf zu behalten, weil es den Druck rausnimmt. Und zwar für die Kinder, aber auch für dich als Bezugsperson.

Besonders wenn es um negative Gefühle geht, solltest du dir bewusst machen, dass dein Kind während einer Gefühlsattacke in erster Linie nicht mit dir kämpft, sondern mit der entsprechenden Emotion. Das ist für viele Eltern eine wichtige Erkenntnis, die ansonsten Gefahr laufen, die Emotionsbomben ihrer Kinder auf sich zu beziehen. Dass das alles anstrengend ist, steht außer Frage. Aber diese emotionale Entwicklung ist für das Leben der Kinder in einer sozialen Gemeinschaft zwingend notwendig. 

Kinder suchen nach aufwühlenden Erlebnissen deinen Trost und deine Nähe.
Kinder suchen nach aufwühlenden Erlebnissen deinen Trost und deine Nähe.

Dabei geht es nicht nur die unangenehmen Gefühle. Es ist genauso wichtig, dass sich Kinder auch bewusst mit ihren positiven Emotionen auseinandersetzen, sie wahrnehmen und mitteilen können. Nur so wissen sie auch später als Erwachsene, was ihnen guttut und was nicht. Beim Emotionsverständnis geht es also darum, dass Kinder den Umgang mit der gesamten menschlichen Gefühlspalette erlernen.

Der Mensch ist ein Herdentier 

Wir alle brauchen emotionale Kompetenzen, um in einer Gemeinschaft gut zu leben und uns sozial zu verhalten. Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Ausbau der exekutiven Funktionen und dem sozialen Verhalten. In verschiedenen Studien stellte sich heraus, dass sich Kinder, die mit ihren Emotionen gut umgehen konnten, Gleichaltrigen gegenüber sozialer verhielten als andere. Positive und negative Emotionen von anderen Menschen kann dein Kind auch nur dann korrekt einschätzen, wenn es selbst ein Verständnis von seinen eigenen Gefühlen hat.

In der Familie oder generell im familiären Umfeld soll und darf man sich auch mal gehen lassen. Da ist es okay, mal vor Wut kräftig zu stampfen, oder Mama vor Begeisterung in die Arme zu hüpfen. Aber es ist wichtig, dass Kinder wissen, wie sie ihre Emotionen regulieren können, wenn es darauf ankommt oder bestimmte Situationen es erfordern. Das ist für die meisten spätestens in der KiTa oder im Kindergarten der Fall, wenn sie auch auf andere Rücksicht nehmen sollen.

 

Soziale Kompetenzen sind die Basis echter Freundschaften.
Soziale Kompetenzen sind die Basis echter Freundschaften.

In der Schule werden die sozialen Kompetenzen dann noch wichtiger. Ohne sie ist Unterricht und Lernen in der Gruppe gar nicht möglich. Kinder müssen lernen, Kompromisse zu erarbeiten und gemeinsam Lösungen zu finden.  

Starke Emotionen sind für die Kinder außerdem ein richtiger Kraftakt und eine Form von Stress. Da spielt es kaum eine Rolle, ob es sich um einen Wutanfall oder die Freude beim Ponyreiten handelt. Die Kleinen sind danach erst einmal körperlich und psychisch erschöpft, brauchen Ruhe und deine Zuwendung. 

Mit Achtsamkeit kann dein Kind seine Emotionen regulieren 

Die Entwicklung emotionaler Kompetenzen bedeutet für Kinder und Eltern also eine enorme Herausforderung. Ein wahrer Entwicklungsbooster kann dabei die Achtsamkeit sein. Sie bewirkt, dass die eigenen Emotionen und die der sozialen Gruppe wertfrei beobachtet und reflektiert werden können.

So entwickeln Kinder schneller die Kompetenz, ihre Gefühle wahrzunehmen, zu zeigen oder auch sie zu verbergen. Achtsam Emotionen wahrzunehmen bedeutet dabei, sich seiner Selbst wertfrei im Hier und Jetzt bewusst zu sein. Das gelingt Kindern meist deutlich einfacher als uns Erwachsenen. Und genau das solltest du nutzen. 

Du kannst zum Beispiel abends ein Dankbarkeitsritual einführen, um diese Form der Achtsamkeit in eurem Alltag zu integrieren. Dabei berichtet ihr euch gegenseitig von einem Ereignis des Tages, für das ihr jeweils besonders dankbar seid. Dieses Ritual eignet sich perfekt für die Bettkante, um den Tag in guter Stimmung ausklingen zu lassen. Mit ein bisschen Übung werden euch bald schon mehr als nur eine Sache einfallen.

Dankbarkeit ausdrücken ist sehr individuell. Versuche Inseln für dein Kind zu schaffen, in denen es sich auf sich besinnen kann.
Dankbarkeit lenkt den Blick auf das Gute. Versuche Inseln für dein Kind zu schaffen, in denen es sich auf sich besinnen kann.

Es gibt wie immer keinen „Königsweg“. Aber es gibt eine Königsrichtung. Die lautet: Achtsam in Bezug auf die eigenen Emotionen sein und verbunden bleiben. Es ist wichtig, dass dein Kind weiß, dass negative Gefühle zum Leben dazu gehören und in Ordnung sind. Kein Gefühl ist schlecht, jedes hat seine Berechtigung. Der richtige Umgang mit unseren Gefühlen ist dabei entscheidend. Dazu gehört einerseits, Gefühle achtsam zu erkennen und richtig zu benennen. Kinder müssen aber auch wissen, welche Emotionsauslöser es gibt und wie sie sie beeinflussen können, das stärkt auch ihre Selbstwirksamkeit.  

Trainiert gemeinsam das Emotionsverständnis 

Wenn du deinem Kind etwas vermitteln möchtest, gelingt dir das sicher leichter, wenn es du es auf spielerische Art und Weise tust. Vielleicht helfen dir die folgenden Praktiken dabei, mit deinem Kind über Gefühle ins Gespräch zu kommen und seine achtsame Wahrnehmung zu schulen. 

  1. Mimik deuten: Gefühle und Stimmungen erkennen 
    Ihr sammelt aus alten Zeitschriften oder Zeitungen verschiedene Gesichter und schneidet sie aus. Nun bestimmt ihr im ersten Schritt gemeinsam die Gemütslage der einzelnen Gesichter. Versucht solche Gesichter zu finden, mit denen ihr alle sieben Basisemotionen abdeckt. Das sind Wut, Verachtung, Freude, Ekel, Trauer, Angst und Überraschung. Ihr sortiert dann links die traurigen oder schlecht gelaunten, nach rechts dann die positiv gestimmten. Das könnt ihr auch mit Familienfotos machen, hier findet man meist eine größere Auswahl an verschiedenen Emotionen. Ziel der Übung ist es, dass dein Kind anhand der Mimik die jeweilige Stimmung erkennt.  
  2. Über Emotionen sprechen
    Plant eine feste Zeit am Tag ein, gegen späten Nachmittag oder am Vorabend, und sprecht über die verschiedenen Gefühle, die ihr tagsüber hattet, gute und negative. Dazu könnt ihr wunderbar das Gefühlstagebuch “Ein gutes Gefühl” nutzen. Für euer Dankbarkeitsritual finden dort auch alle dankbaren Momente des Tages ihren Platz.
  3. Blitz-Achtsamkeitsübung
    Frage dein Kind ab und an spontan, wie es sich fühlt. Lade es dazu ein, kurz innezuhalten, achtsam in sich hineinzuhorchen. So kann es üben, die eigene Gefühlswelt wahrzunehmen und zu beschreiben. Versuch nach Möglichkeit, dein Kind bei der Wahrnehmung aller Emotionen anzuleiten. 
  4. Wut- und Kummerkasten
    Für ältere Kinder: Bastelt gemeinsam aus einem Schuhkarton einen Kummerkasten. Das nächste Frust- oder Wuterlebnis beschreibt dein Kind dann möglichst genau auf einem Zettel und wirft diesen in den Kasten. Das fördert das Emotionsverständnis und das Ausdrücken von Gefühlen.  
  5. Manöverkritik
    Wenn Wut und Frust verraucht sind: Geht das Erlebte noch einmal gemeinsam durch und überlegt, wie eine angemessene Reaktion aussehen könnte. Beim Reißverschluss-Problem hätte es zum Beispiel gereicht, wenn mein Sohn gleich Bescheid gegeben hätte, dass er sauer wird und Hilfe braucht. 
Unser neues Kinderbuch erklärt 20 wichtige Gefühle

Vorbilder gesucht: Deine Rolle 

Wie immer hilft es enorm, wenn du selbst ein Vorbild bist. Die Art, wie du mit deinen Gefühlen umgehst, prägt dein Kind. Kinder unterstützen und erziehen bedeutet immer auch, sich selbst noch mal genau unter die Lupe zu nehmen. Es bleibt dir nicht erspart, dein eigenes Verhalten zu hinterfragen und schlechte Gewohnheiten anzugehen.  

Das klingt mühsam, aber du kannst dir sicher sein, dass es sich positiv auswirken wird, und zwar auf dich und dein Familienleben. Hand aufs Herz: Manchmal gefällt einem nicht, was man über sich selbst erfährt. Versuch auch hier, achtsam und wertfrei zu bleiben, niemand ist perfekt. Beobachte dich selbst freundlich und stelle dir folgende Fragen: 

  1. Wie gehst du mit deinen Emotionen um, gibst du Wut und Frust, aber auch Begeisterung und Freude einen Raum?  
  2. Sagst du rechtzeitig, wenn dir etwas zu viel wird, oder erträgst du eine Situation so lange, bis du explodierst? 
  3. Sprichst du offen über deine Gefühlslage? Auch über die unangenehmen Emotionen, oder ist immer „alles super“? 

Veränderungen passieren nicht von jetzt auf gleich, neue Routinen müssen sich erst etablieren. Bleib im Gespräch mit deinem Kind und tauscht euch über eure Emotionen aus. Gemeinsam könnt ihr Strategien entwickeln, die in euren Alltag passen.  

Hab Geduld mit dir und deinem Kind. Vielleicht musst du dich noch mal auf den Weg machen und deine eigenen Emotionen und den Umgang mit ihnen erforschen. Nutze die Chance, das gemeinsam mit deinem Kind zu tun. 

Kategorien Achtsamkeit Selbsthilfe

Lisa Pertagnol lebt mit ihrer Familie in Köln. Auf powerful:me beschäftigt sie sich mit den Themen Achtsamkeit und Lebensmitte. Damit möchte sie Menschen inspirieren und ihnen Hilfestellung geben. Website Instagram

3 comments on »Wutattacken und Begeisterungsstürme – Hilf deinem Kind im Umgang mit Emotionen «

  1. Vielen Dank für diesen bereichernden Beitrag. Bisher habe ich nie Kommentare hinterlassen, aber dieses Mal möchte ich meine Emotionen darüber teilen – nämlich die Freude, diesen Artikel hier gefunden zu haben. Unsere Familie befindet sich genau in diesem Lernprozess, im Umgang mit Emotionen, der sich zur Zeit wirklich sehr anstrengend anfühlt. Danke für diese wunderbaren Worte, die mir Zuversicht und die Möglichkeiten beschreiben, neue Wege in eine “Königsrichtung” zu gehen.

  2. Barbara Motschenbacher

    Danke für den Artikel. Ich werd das Buch gleich bestellen. Ist ein super Weihnachtsgeschenk für meine Nichte. (Und für die Eltern ;-)). Und sicher auch für einige meine Coaching-Klienten.
    Viele Grüße aus München

  3. Sehr gut recherchiert. Intelligent und verständlich geschrieben. Wird für viele Eltern ein Denkanstoß sein. Mehr davon.😘🍀

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