Zum Erscheinen ihres neuen Buchs Eine gute Frage für Eltern erklärt unsere Autorin Lena Kuhlmann, wie und warum Eltern ihr Verhalten hinterfragen sollten. Triggerwarnung: Dieser Text konfrontiert dich mit deiner Vergangenheit, insbesondere der Kindheit. Er kann verdrängte und unangenehme Gefühle auslösen.
Ich habe lange überlegt, was meine erste Kindheitserinnerung ist. Ich glaube, ich war auf einem Geburtstag, vielleicht mit 4-5 Jahren und es gab Marmorkuchen. Ich liebe Marmorkuchen noch heute. Schön saftig und mit Schokoglasur. Ich kann nicht sagen, warum ich mich genau daran erinnere, aber es ist eine wohlige Erinnerung und daran zu denken, fühlt sich geborgen und warm an. Ich kann mich aber auch an negatives erinnern. Das war, als ich gerade das Radfahren gelernt habe und dann schlimm hingefallen bin. Es hat ordentlich geblutet und ich war richtig aufgelöst. Die Tränen sind gelaufen und meine Eltern haben mich tröstend in die Arme genommen. Das war also gut und schlecht. Schlecht, dass ich gestürzt bin, aber gut wegen der Arme, die mich gehalten haben. Heute weiß ich, dass ich in der Beziehung mit meinen Eltern eine prägende Erfahrung sammeln durfte, die sich tief abgespeichert hat: Wenn du hinfällst, sind wir für dich da.
Dann bin ich größer geworden und habe über das alles intensiv nachgedacht. Über die unterschiedlichen Startbedingungen im Leben. Ich war damals in der Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Hundert Stunden lang haben wir in der Selbsterfahrung unsere eigene Geschichte analysiert: von Anfang an bis heute aus allen Winkeln. Ich, ich, ich.
Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen, aber nur wenige erinnern sich daran.
Antoine de Saint-Exupéry
Ich bin Tiefenpsychologin. Die Kindheit spielt in meiner Fachrichtung eine besondere Rolle, weil wir davon ausgehen, dass in den ersten Lebensjahren das psychische Fundament entsteht. Im Zusammenleben mit unseren Eltern bekommen wir ein Gefühl dafür, was es bedeutet in Beziehung mit jemanden zu sein. Wir erhalten wichtige Grundbotschaften, zum Beispiel, ob wir in dieser Welt willkommen sind. Oder ob wir so angenommen werden, wie wir sind. Glaubenssätze haben meist in den Kinderjahren ihren Ursprung und hier wird auch der Grundstein für das Selbstwertgefühl und -vertrauen gelegt. Wer schon einmal etwas über Bindungsstile gehört hat, der weiß, dass sich diese in den ersten Lebensjahren in der Beziehung mit der primären Bezugsperson ausbilden
Ein Kind muss man immer mit seinen Eltern denken.
Karl Heinz Brisch
Unsere Eltern sind für uns ein (unbewusstes) Modell. Wir beobachten bei ihnen, wie man sich in Konflikten verhalten kann. Wir bekommen vielleicht ein Gefühl dafür, was es bedeutet in einer Beziehung mit einem Partner oder einer Partnerin zu sein und wie Liebe aussieht. Wir lernen, wie man mit Gefühlen umgehen kann und spüren wiederum, ob unsere Gefühle akzeptiert werden. Wenn du Wegbegleiter*in von Kindern bist, dann ist es dir vielleicht schon passiert, dass du durch das Zusammenleben mit Kindern automatisch an deine eigene Kindheit erinnert wurdest.
Die gute Nachricht ist: Man kann erworbene Muster der Vergangenheit durchbrechen und man kann sie ablegen. Quasi, wie wenn man ein Update auf seinem Handy durchführt. Die schlechte Nachricht ist: Das passiert leider nicht automatisch und über Nacht, so wie das bei meinem Telefon der Fall ist. Im Gegenteil, es ist meist ziemlich harte Arbeit und schmerzt vielleicht phasenweise. Gleichzeitig ist es aber auch wirklich spannend, mehr über sich selbst zu erfahren, um zu verstehen, warum man der Mensch geworden ist, der man heute ist. Durch Selbstreflexion können wir in unserer Persönlichkeitsentwicklung wachsen.
Im speziellen Fall der Elternschaft ist ein ehrlicher und offener Blick auf sich aber noch einmal bedeutsamer, weil es um mindestens einen weiteren Menschen geht. Wenn du verhindern willst, Unverarbeitetes oder Unreflektiertes (aus deiner Vergangenheit) an dein Kind weiterzugeben, dann ist es wichtig, dass du dich und dein Verhalten hinterfragst. Und das nicht nur einmal, sondern am besten in regelmäßigen Abständen.
Der Blick in den Rückspiegel
Weiter oben hast du nun gelesen, dass die Kindheit eine besonders wichtige Rolle im Leben spielt. Das bringt uns zu der Frage, wie du eigentlich aufgewachsen bist. Sicherlich kannst du dich nicht mehr so gut an alles erinnern (insbesondere an die ersten 3 Jahre haben wir alle keine Erinnerung), aber bestimmt gibt es jemanden, der dir dazu ein bisschen mehr erzählen kann. Alte Zeugnisse, Fotos, Poesiealben oder andere Erinnerungsstücke können dir ebenso wichtige Informationen liefern. Ist es nicht interessant zu erfahren, wie du als Säugling, Kleinkind oder Kindergartenkind warst?
Ich stelle diese Frage regelmäßig in einem ersten Kennenlerntermin in der Praxis und meine kleinen und großen Patient*innen sind häufig ganz gebannt, wenn Mütter und Väter von der Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren erzählen. Natürlich sind die Antworten unter Vorbehalt zu interpretieren, weil man sich auf seine Erinnerung nicht immer zu hundert Prozent verlassen kann. Ich bin dennoch oft verwundert, wie wenig wir über unsere erste Zeit auf dieser Welt wissen und manchmal auch, wie wenig wir uns selbst im Vergleich zu anderen kennen. Das wollen wir hiermit ändern.
Sobald du dich mehr mit deinem Lebensweg und mit deinen Höhen und Tiefen auseinandersetzt, werden dir in deinem Alltag immer wieder Muster aus der Vergangenheit begegnen und für einige Aha-Erlebnisse sorgen. Es kann sein, dass du zum Verhalten deiner Eltern Parallelen erkennst. Vielleicht verhältst du dich in Konflikten wie deine Mutter? Oder du bist über deine eigenen Grenzen hinaus aufopfernd für andere da, wie dein Vater? Oder du bemerkst plötzlich, dass es in eurer Familie damals keinen Raum für unangenehme Gefühle gab und willst das in der Erziehung deines Kindes unbedingt anders machen. Manchmal hast du Regeln, Strukturen, Rituale oder Sätze deiner Eltern so verinnerlicht, dass du sie heute ganz selbstverständlich und ohne zu hinterfragen wiederholst.
Welcher Satz deiner Eltern ist dir noch heute in Erinnerung?
Eine gute Frage für Eltern, Frage 7
Schauen wir uns also den Rucksack voller Mitbringsel aus deiner Vergangenheit genauer an. Vieles davon ist sicherlich sehr hilfreich und sollte erhalten, anerkannt und wertgeschätzt werden. All der Ballast aber, den du als nicht hilfreich erachtest, kannst du aussortieren, weil er deinen Reiserucksack unnötig schwer macht. Manchmal reicht die pure Einsicht, um Muster zu durchbrechen. Manchmal braucht man dafür professionelle Hilfe.
Erziehung im heute und hier
Der Blick zurück hilft dir besser zu verstehen, welche Erfahrungen aus der Vergangenheit dich noch heute beeinflussen. Nun wollen wir uns aber auf das Hier und Heute konzentrieren. Gerade im hektischen Alltag mit Kind sind Zeiten des Innehaltens und Nachdenkens selten. Sie lohnen sich dennoch, weil du durch regelmäßige Reflexion schwierige Situationen erkennen und ggf. sogar schon vorher beheben kannst. Du kannst in Ruhe darüber nachdenken, wo dein Kind gerade steht und was es braucht. Und umgekehrt, kannst auch du in dich hinein hören, um zu spüren, ob du dir mal wieder eine kleine Auszeit nehmen solltest. Nur, wenn du auf dich achtest, kannst du die Gefühle deines Kindes gut beantworten.
Wie reagierst du, wenn dein Kind traurig ist? Und wie, wenn es wütend ist? Wie reagierst du, wenn dein Kind ängstlich ist?
Eine gute Frage für Eltern, Frage 59
Selbstreflexion ist wichtig, um dein Handeln aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und um ggf. Alternativen zu finden. Sie ist auch wichtig, um dir bewusst zu machen, was dir in der Erziehung wichtig ist, was du deinem Kind vermitteln willst, welche besonderen Stärken und Ressourcen du bzw. ihr als Familie habt oder was euch miteinander verbindet.
Eine Sache ist mir in diesem Zusammenhang noch wichtig zu sagen: Elternschaft braucht mehr Raum für Gefühle. Kinder beim Aufwachsen zu begleiten ist nämlich eine emotionale Achterbahnfahrt, die Eltern auf vielen Ebenen an ihre Grenzen bringt. Gefühle wie Versagensängste, Trauer bei kleinen und großen Abschieden, Enttäuschung und Wut haben ihre Berechtigung. Sie sind gewaltig und bedeutsam und sie brauchen einen wertfreien Raum. Auch dafür eignet sich Selbstreflexion in Form einer emotionalen Bestandsaufnahme.
Einfach machen?
Sich selbst wie ein Vögelchen von oben betrachten, das klingt fast schon romantisch. In Wahrheit ist Selbstreflexion immer intensive Arbeit. Vielleicht klappt es beim ersten Mal auch noch gar nicht so gut, weil du es nicht gewohnt bist, deinen Blick zu verändern. Das macht gar nichts und bedeutet nur, dass du einfach weiter am Ball bleiben solltest.
Selbstreflexion braucht eine ordentliche Portion Mut, Offenheit und die Fähigkeit zur Selbstkritik. Es ist nicht leicht sich Fehler und Schwachstellen einzugestehen, aber es ist der erste Schritt in Richtung Veränderung. Wenn du dich intensiver damit beschäftigen willst, dann ist unser neues Buch “Eine gute Frage für Eltern” wie für dich gemacht. Es beinhaltet 100 bindungstheoretisch basierte Fragen in 2 Kategorien. Du ahnst es vielleicht schon: 50 Fragen beschäftigen sich mit deiner eigenen Kindheit, 50 Fragen beziehen sich auf das Hier und Heute mit deinem Kind. Es ist kein Ratgeber, sondern soll dich zum Nachdenken bringen und dir neue Erkenntnisse schenken. Es ist eine Einladung, dich – für dein Kind – selbst besser kennenzulernen.
1 Kommentare zu »Bewusster erziehen: Wie dir Selbstreflexion im Erziehungsalltag helfen kann«
1 Gedanke zu „Bewusster erziehen: Wie dir Selbstreflexion im Erziehungsalltag helfen kann“
Seit längerer Zeit treibt mich die Frage um, welche Werte ich meinen Kindern vermitteln möchte. Doch es scheint neben den Werten noch so viel mehr zugeben, was ich als Vater von zwei kleinen Jungs beachten sollte.
Zudem verspüre ich das starke Bedürfnis, Fragen für mich zu klären, um meinen Jungs der Wegbereiter in Ihrem Leben zu sein, der sie zu selbstbewussten, eigenständigen und lebensfrohen Menschen heranwachsen lässt. Ich freue mich daher sehr auf dieses Buch!