Achtsam im Bett: Wie wir auf unsere sexuellen Bedürfnisse hören

Warum überhaupt ein Text über Sex auf einem Blog über Achtsamkeit? Ganz einfach: Weil Achtsamkeit nicht nur Yoga und Morgenroutine bedeutet, sondern in alle Lebensbereiche übergreift. Und erst wenn wir uns einen Moment für uns nehmen, um uns klar darüber zu werden, was wir eigentlich gerade brauchen, können wir das tun, was für und in uns stimmig ist – und dann beispielsweise den Sex haben, der sich auch am nächsten Tag noch für uns gut anfühlt und dafür sorgt, dass wir ein bisschen entspannter und schwungvoller durch die Welt spazieren. 

Auch beim Sex kann Achtsamkeit nicht schaden: Werde dir bewusst, was du wirklich brauchst!
Worauf hast du wirklich Lust?

Dafür brauchen wir noch nicht mal einen gebatikten Lendenschurz oder büschelweise Pfauenfedern. Ja, ich war in meiner dreizehnjährigen Sexkolumnistinnenkarriere schon in diversen Tantraworkshops und nein, ich muss das nicht unbedingt wiederholen. Was mir dafür auch seit meiner Weiterbildung zur systemischen Sexualberaterin noch mehr am Herzen liegt: Menschen mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen (wieder) in Kontakt zu bringen, und ihnen dabei zu helfen, den Sex zu haben, den sie wollen.

Wozu Sex?

Die Frage klingt so basal, dass wir sie uns selbst und unserem Gegenüber eigentlich meistens nicht stellen – und wenn es dann doch passiert, nicht selten auch von der eigenen, ehrlichen Antwort überrascht sind: Warum möchte ich gerade eigentlich Sex? Und wie oft geht es mir dabei in Wirklichkeit (auch noch) um etwas ganz anderes?

Weil’s geil ist. Weil’s Spaß macht. Weil ich will. Das macht man halt so. 

Das sind erst mal Standard-Antworten. Doch es lohnt sich, genauer nachzuhaken. Tatsächlich wollen US-amerikanische Wissenschaftler*innen herausgefunden haben, dass es genau 237 verschiedene Gründe gibt, aus denen Menschen Sex haben. Zum Beispiel: Ich wollte sichergehen, dass in unserer Beziehung noch alles stimmt. Ich wollte mich nach einem Streit versöhnen. Ich wollte mich Gott näher fühlen. Meine Freund*innen hatten alle Sex und ich wollte eben dazu gehören. Mir war langweilig. Ich wollte mich abreagieren. Ich wollte ein Baby machen. Ich bin verheiratet, da macht man das eben so. 

Ohne hier ein moralisches Ranking darüber aufmachen zu wollen, welcher dieser Gründe jetzt besser oder schlechter ist, oder wie die Autor*innen der Studie darüber zu mutmaßen, welche dieser Gründe „typisch männlich oder weiblich“ seien, ist es auf jeden Fall hilfreich, zu fragen: Welcher Grund ist ein guter Grund für mich? 

  • Kann ich mich selbst gut mitteilen mit dem was ich möchte und was ich empfinde?
  • Sind mein Gegenüber und ich hier gerade zumindest grob der gleichen Meinung, was die Erwartungshaltung an dieses Tête-a-Tête angeht?
  • Kann ich verstehen, was die Motivation dieses anderen Menschen hier ausmacht und bin ich da mit an Bord?
  • Werde ich mich unter diesen Bedingungen danach voraussichtlich eher ausgenutzt oder ausgefüllt fühlen? 

Worauf hab ich Lust? Und du?

Es ist wie beim Essen: Wer gerade Heißhunger auf Pommes hat, wird mit Karottensticks nur bedingt glücklich. Wer eigentlich gerne verkuschelten Slow Sex hätte, hat wahrscheinlich keine akute Lust darauf, sich auspeitschen zu lassen. Was sich für beide stimmig anfühlt, darf passieren. Also: in einer idealen Welt. 

Achtsamkeit kann bedeuten, die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu kommunizieren.
Bedürfnisse und Grenzen gehen Hand in Hand

In einer idealen Welt treffen jetzt also zwei (oder mehr) Menschen aufeinander, die wissen, was sie wollen. Und es einander auch klar und empathisch mitteilen können. In einer idealen Welt haben diese Menschen dann idealen, klar kommunizierten Sex.  Leider kommt oft die Realität dazwischen – und die ist nicht immer so ideal.

Toxic (Sex-)Positivity

In ihrem unbedingt lesenswerten Buch „Morgen wird Sex wieder gut“ schreibt Katherine Angel von „feministischer Selbstvertrauenskultur“ – dem „Lean In“-Feminismus der letzten Jahre, der glamouröse weibliche Vorbilder in den Vordergrund stellt, die selbstbewusst ihre Frau stehen, genau wissen was sie wollen und es genau so kommunizieren und durchsetzen können – und dabei vermitteln, dass es eben nicht Patriarchat, Kapitalismus oder institutioneller Sexismus sind, die Frauen zurückhalten – sondern ein individueller Mangel an Selbstvertrauen. Angel schreibt: 

Vielleicht ist es nicht schlecht, wie sich die Selbstvertrauenskultur an Frauen wendet, im Tonfall einer anfeuernden Freundin, die zu einer positiven Einstellung und Selbstverwirklichung anstachelt (you go, girl!); und manchmal können derartige aufrüttelnde Selbstgespräche vor dem Badezimmerspiegel sicher hilfreich sein.

Und doch weicht diese Art, sich an Frauen zu wenden, einem offenkundigen Problem aus: Dass Frauen für exakt das selbstbewusste, durchsetzungsstarke Verhalten, das sie entwickeln sollen, oft bestraft und kritisiert werden (sie seien zickig, rechthaberisch, wütend). Außerdem halten sich die Aufrufe zu Positivität jegliche Verletzlichkeit beklommen vom Leib. Sie machen Unsicherheit und den Mangel an Selbstvertrauen zu etwas Hässlichem, Erbärmlichem, Blamablem – zu etwas, das keine Frau, die etwas auf sich hält, empfinden würde, oder zumindest würde sie es nicht zeigen. Dieser Art des Adressierens wohnt ein fast manisches Beharren auf Stärke inne; man gibt sich größte Mühe, Frauen als nahezu heldinnengleich unverwundbar zu zeigen.

Katherine Angel – Morgen wird Sex wieder gut

Und das ist besonders beim Thema Sex schnell schwierig – wir machen uns schließlich wortwörtlich nackt vor einander, zeigen uns (im Idealfall) so wie wir wirklich sind, mit allen Unsicherheiten und Wünschen. Nur so kann echte Intimität und Zwischenmenschlichkeit entstehen – die dann wiederum den Sex so viel besser machen kann. 

Consent ist sexy?

Consent ist das Allerwichtigste, das hat uns der  #metoo-Diskurs gelehrt, mit sämtlichen damit einhergehenden Ratschlägen, Warnungen und Anweisungen, die in der Theorie ja auch oft hilfreich und wichtig sind. Aber wie nuanciert funktioniert das in der Praxis wirklich, und was macht der Anspruch, immer und unbedingt wissen zu sollen, was wir wollen, mit unserer Sexualität? Angel hierzu:

Indem Frauen dazu aufgefordert werden, klar und selbstbewusst darin zu sein, ihr sexuelles Begehren auszudrücken („Das sind wir uns selbst schuldig!“) läuft die Konsenskultur – wie der Selbstvertrauensfeminismus – aus gewissen Sehnsüchten heraus Gefahr, die Tatsache zu leugnen, dass Frauen oft für ebenjene Sexualität bejahenden Positionen bestraft werden, die zu verkörpern sie angehalten werden. Darüber hinaus lässt die Konsensrhetorik keine Ambivalenzen zu, sie riskiert, dass nicht nur die Schwierigkeit, Begehren auszudrücken, sondern auch der Umstand, nicht zu wissen, was wir überhaupt wollen, als unzulässig – und sogar gefährlich – gilt.

Katherine Angel – Morgen wird Sex wieder gut

Wir sollen also immer und jederzeit selbstbewusst wissen, was wir wollen und das auch kommunizieren können, weil es uns schaden könnte, wenn wir das nicht tun – während gleichzeitig wenig bis gar nicht darüber gesprochen wird, was die Konsequenzen dieses Verhaltens sein können: als zu laut und fordernd bis „unfeminin“ wahrgenommen zu werden, ist dabei oft noch das kleinere Problem. 

Du musst gar nichts: auch Achtsamkeit in Hinblick auf Sex hat seine Grenzen.
Selbstfürsorge Sex-Edition

Was passiert, wenn Selbstvertrauensfeminismus und Konsenskultur aufeinandertreffen, sehe ich immer wieder in meiner Arbeit und im Austausch mit trauma-therapeutisch arbeitenden Kolleg*innen: während Opfer von sexualisierter Gewalt und Übergriffen früherer Generationen die Tatsache, dass ihnen etwas Schlimmes widerfahren ist, noch eher als Unglück einordnen, das ihnen eben passiert ist, suchen jüngere Opfer fast immer auch eine Teilschuld bei sich – vielleicht hätten sie einfach die falschen Signale gesendet, um so etwas anzuziehen? 

Die Antwort ist ganz klar: nein. Es gibt schlechten Sex, es gibt schlecht kommunizierten Sex, und es gibt Übergriffe – und an denen ist niemand Schuld, außer der übergriffigen Person. Wir können uns selbst wahnsinnig gut kennen und dann auch noch super ausdrücken, und trotzdem an jemanden geraten, der das nicht kann oder will, oder einfach sein Ding durchzieht, ohne dabei auf sein Gegenüber zu achten. Bei aller Liebe zur Eigenverantwortung: Manchmal passieren uns Dinge, die nicht ok sind, und es ist gut, sich Hilfe zu holen, um sie zu verarbeiten.

»If the fuck don’t feel right, don’t fuck it«

Was außerdem bei aller sexpositiv-esoterischen Coaching-Rhetorik von erotischer Energie und libidinöser Lebenskraft manchmal gern vergessen wird: Es ist auch total okay, keinen Sex zu wollen. Wie Grace Jones schon wusste: »If the fuck don’t feel right, don’t fuck it.«

Manchmal ist das Nein zu Sex mit jemand anderem ein Ja zu uns selbst. Wenn wir wirklich eine Milliarde andere Dinge im Kopf haben, die uns gerade wichtiger sind, als Sex. Wir uns körperlich einfach nicht danach fühlen. Wenn die Bedürfnisse und Erwartungshaltungen nicht zueinanderpassen. Wir den Geruch der anderen Person weniger toll finden als erwartet. Oder doch noch an den oder die Ex denken beim Küssen. Consent darf jederzeit zurückgezogen werden – und ein simples „ich fühls grad nicht“ ist Grund genug. 

Und das ist wahrscheinlich die wichtigste achtsam-im-Bett-Regel überhaupt: sich immer wieder mal zwischendurch rausnehmen und sich selbst fragen zu dürfen: Fühlt sich das hier gerade (noch) gut an? Und dann dementsprechend nachzujustieren.

1 comment on »Achtsam im Bett: Wie wir auf unsere sexuellen Bedürfnisse hören«

  1. Kerstin Andersson

    Guter Text

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