8 Vorschläge für den Umgang mit Krieg. Self-care ist keiner davon.

Wie kann man den Schrecken eines Kriegs fassen und ist es überhaupt richtig, einen möglichst gefassten Umgang mit dem Leid dieser Welt anzustreben? Ein paar Gedanken über traumatische Nachrichten.

Wenn der Wunsch nach Frieden nicht reicht

Dieser Text entstand wenige Stunden nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Die Informationen können für andere Lagen unpassend sein.

Nachdem der erste Schock angesichts der Ereignisse heute Morgen nicht mehr jeden Gedanken gelähmt hatte, war die Aufregung im Team groß. Wie reagiert man auf so etwas? Seit fast einem halben Jahr bereiten wir uns auf den heutigen Tag vor, weil der Start einer großen Kampagne anstand. Der Drogeriemarkt dm hatte uns für eine Aktionswoche in sein Sortiment aufgenommen. Für unseren kleinen Verlag war das eine wichtige Sache.

Schnell war klar: das Posting, die Storys, der Blogbeitrag, der seit Monaten geplante Newsletter, das alles wird gestoppt. Aber was macht man stattdessen? Einfach alles ein paar Tage verschieben? Solidaritätsbekundungen? Gar nichts? 

Die Entmächtigung durch den Kommerz

Und dann wurde uns klar: Man kann als Firma auf Katastrophen und Krieg kaum angemessen reagieren. Und sollte es meist auch nicht. Jedes Wort würde letztlich doch im Rahmen des Kommerz stattfinden; Egal, wie gut es gemeint ist. Haltung zeigen ist wichtig, aber Firmen sollten in ihren Bereichen wirken. Ihre Produkte nachhaltig und sozialverträglich herstellen, faire Arbeitsbedingungen schaffen, Missstände ihrer Branche oder Lieferkette thematisieren und in diesem Rahmen wirken und damit werben. Eine Positionierung zu allem, was auf der Welt passiert, kann zwar die Reichweite für die gute Sache steigern, diese aber auch durch ihren kommerziellen Kontext entmächtigen. Vieles wird weniger politisch, sobald es durch Millionen Marketingmaschinerien gemangelt wird.

Da wir uns inhaltlich aber mit Burnout-Prävention und mentaler Gesundheit beschäftigen, können wir vielleicht eine Hilfestellung für den Umgang mit Krisen, Krieg und Katastrophen geben. Als Verlag fällt es uns leichter, Worte zu finden, wo sonst Sprachlosigkeit herrscht.

Kein Frieden mit dem Krieg

Klar ist: Es kann und darf keine Checklisten für den richtigen Umgang mit Kriegen geben, die das Ziel haben, Frieden mit dem Thema zu machen. Darum geht es hier nicht. Folgende Gedanken sollen Menschen, die sich so fühlen, als sei ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen worden, einen ersten Haltegriff bieten.

1. Nüchterne Gefahrenanalyse

Schätze zuerst deine persönliche Gefahr möglichst nüchtern ein. Es ist eine natürliche Reaktion, auch in geopolitischen Konflikten kurz an sich selbst zu denken, Stichwort Selbsterhaltung. Wenn du diesen Text liest, bist du eventuell nicht direkt von Kampfhandlungen betroffen. Das mag egoistisch klingen, aber für viele Menschen sind Nachrichten, wie die heutigen, mit einer unmittelbaren Angstreaktion verbunden, die weitere klare Gedanken verhindern. Da hilft es schon, sich einmal bewusst zu sagen, dass du jetzt nicht um dein Leben rennen musst. Ja, andere müssen das, aber hier reden wir einmal über dich. Das ist erlaubt, wenn das nicht der einzige Fokus bleibt.

2. Überforderung akzeptieren

Unsicherheit ist eine normale Reaktion auf massive Krisen

Die Situation ist extrem komplex, nicht vorhersagbar und dynamisch. Menschen streben aber eine möglichst eindeutige Einschätzung von Geschehnissen an. Das ist in Fällen wie Katastrophen und Krieg kaum möglich. Überforderung ist das Ergebnis. Quäle dich nicht mit dem Versuch, die Sache zu komplett erfassen zu wollen. Dafür passiert zu viel zu schnell. Akzeptiere die Unsicherheit und Überforderung. Das ist frustrierend, aber noch mal: Es geht bei diesen Tipps nicht darum, dass du dich möglichst gut in deiner Position fühlst. Schmerz ist eine angebrachte Reaktion. Wir müssen aufgebracht bleiben.

3. Ohnmacht verlassen

Versuche, aktiv zu werden. Ohnmacht ist eine natürliche Reaktion, aber kein nachhaltiger Zustand. Viel können wir zu Beginn von Krisen nicht tun, außer uns zu informieren, Solidarität zu bekunden, manchmal zu spenden, uns mit anderen auszutauschen, zu demonstrieren, Sanktionen oder Hilfen von unserer Regierung fordern.
Aber dann mach doch genau das. Jede noch so kleine Handlung, die dich aus der Lähmung bringt, kann dir helfen. Unterhalte dich mit anderen. Informiere dich. Geh auf die Straße. Unterschreibe Petitionen. Spende Geld oder Engagement an etablierte Hilfsorganisationen. Und verstehe, dass meist nur Ersteres gewünscht ist.

4. Zuhören, Zynismus zügeln

Bist du aktuell eher gelassen, weil du auch extreme Ereignisse sehr gefasst aufnimmst, sei für dein soziales Netz da. Hör den Menschen zu, die sich überfordert fühlen. Übe dich in achtsamer Kommunikation und vermeide Plattitüden wie „So ist es eben“, „Menschen sind halt doof“, „Kriege gibt es ja immer“, „Das war doch zu erwarten.“

Auch das Kritisieren der aktuellen Betroffenheit, obwohl es „ja auch niemanden interessiert, wenn in [Land, welches oft vergessen wird] Menschen sterben“, ist zynischer Hohn. Menschen können ihre Empathie schlecht steuern und mit manchen Regionen dieser Erde fühlt man sich geografisch oder kulturell bedingt verbundener als mit anderen. Das kann man heuchlerisch finden. Oder als Fakt der menschlichen Psyche akzeptieren. Eine Krisenregion gegen eine andere auszuspielen, um einen billigen Punkt zu machen, ist einfach nicht der kritische Take, für den du ihn hältst.

5. Sachlich informieren

Informiere dich sachlich. Die kommenden Wochen werden von Horrormeldungen geprägt sein. Es ist völlig o. k., sich bewusst vor schrecklichen Bildern und reißerischer Berichterstattung zu schützen. Eine gute Möglichkeit ist beispielsweise der Teletext der tagesschau. So bleibst du informiert, ohne deine Emotionen durch martialische Bilder manipulieren zu lassen. 

Der Krieg im Liveticker und als Teletext

Aber versuche auch, dich zumindest rudimentär zu informieren. Nicht mit Doom Scrolling, also der stumpfen Aufnahme möglichst vieler furchtbarer Nachrichten. Aber wir dürfen die Augen auch nicht verschließen. Das Unverständnis, „warum sich nicht alle Menschen einfach lieb haben können“, ersetzt einfach keine Auseinandersetzung mit der Thematik.

Verstehe aber, dass es nicht nötig ist, dich konstant zu informieren. Die Grenze zwischen Eilmeldungsfaszination und Krisenvoyeurismus ist fließend. Die Faktenlage ändert sich selten komplett innerhalb kürzester Zeit. Eine nüchterne Informationsbeschaffung alle paar Tage oder sogar Wochen reicht oft. Gerade bewaffnete Konflikte können sich oft über Monate, manchmal sogar Jahre ziehen.

6. Social Media hinterfragen

Erlaube dir, Social Media ganz pauschal nicht als richtigen Kanal für Diskurs anzusehen. Wenn du nichts zum aktuellen Geschehen posten möchtest, ist das ok. Es kann ein gewisser Druck entstehen, sich positionieren zu müssen. Diese Form des Mitteilens kann auch wichtiges Ventil werden, aber generell bist du einer anonymen Öffentlichkeit nichts schuldig. Du kannst deine Haltung auch lokal in deinem Bekannten- und Freundeskreis kundtun, wenn du Austausch wünschst.
Direkt Betroffene wünschen sich häufig auch, dass ihr Leid nicht genutzt wird, um eine persönliche Positionierung zur Schau zu stellen.

Hier kommt es aber auf den Einzelfall an. Oft ist ein Mehr an Öffentlichkeit hilfreich. Social-Media-Aktivismus, Sinn-fluencing und Co. sind ein elementarer Bestandteil öffentlicher Debatten geworden und erfüllen einen Zweck.

7. Selbstmitleid vermeiden

Verstehe, dass es nicht um dich geht. Auch wenn nachhaltiges Engagement nur möglich ist, wenn man sich auch immer wieder um uns selbst kümmert, sollte deine eigene Befindlichkeit jetzt nicht ausschließlich der Fokus sein. Verlier dich nicht im Selbstmitleid, weil dich das Thema so mitnimmt. Verstehe, dass Betroffenheit nicht deine Aufgabe ist. Mangels direkter Handlungsmöglichkeiten fühlt sich das emotionale Mitleiden oft richtig an. Aber sieh es nicht als Pflicht an, dich möglichst schrecklich zu fühlen. Unsere Solidarität, Empathie und Menschlichkeit sind standhafter, wenn wir uns nicht komplett vom Leid einnehmen lassen.

8. Vor Ort gegen das Patriarchat positionieren

Viele bewaffnete Konflikte entspringen auch patriarchalen Grundgesetzen: Kompromisse sind Schwäche, Gewalt ist Stärke, Fremde sind Feinde, Überlegenheit ist ein adäquates Ziel, Andersdenkende müssen bestraft werden. Diese Überzeugungen machen Waffengewalt wahrscheinlicher, auch in Europa, auch in der DACH-Region. Verbitterung, Minderwertigkeitskomplexe und Hass lassen sich ständig aufs Neue durch demokratiefeindliche Bewegungen instrumentalisieren.

Bei jedem Konflikt auf der Welt zu rufen, wie schlimm das ist und man ja nichts tun könne, ist anhand der realen Bedrohung vor Ort unnötig unbeholfen. Das suggeriert, dass weit entfernt alles furchtbar ist, während wir im Paradies hocken und außer Solidaritätsbekundungen nichts möglich ist. Aber jeder Krieg ist immer Mahnung, dass unsere Menschenrechte und Menschlichkeit keine Selbstverständlichkeiten sind. Das alles gilt es zu verteidigen, das alles ist in Gefahr.

Ignoranz ist nicht achtsam

Es ist okay, nicht zu wissen, wie du auf Kriege und Krisen reagieren sollst. Wenn du mit der Situation überfordert bist, ist das verständlich. Auch immer wieder Abstand zur Thematik zu gewinnen kann nötig sein. Achte auf dich und deine Psyche, klar.
Aber wir werden dir angesichts von Gewalt und Krise nicht raten, mehr zu meditieren oder Self-care zu betreiben. Leid im Namen der Achtsamkeit konstant zu ignorieren ist keine Achtsamkeit.

Kategorien Mentale Gesundheit Psychologie Selbsthilfe

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Jan Lenarz ist Gründer und Geschäftsführer von Ein guter Plan. Der mehrfache SPIEGEL-Bestsellerautor engagiert sich politisch für mentale Gesundheit und schreibt über Achtsamkeit, Depression und Burnout. Er engagiert sich ehrenamtlich als Rettungssanitäter und Erste-Hilfe-Ausbilder. Bei den Einsätzen im Berliner Stadtgebiet wird seine hart antrainierte Gelassenheit regelmäßig auf die Probe gestellt. Website Instagram

25 comments on »8 Vorschläge für den Umgang mit Krieg. Self-care ist keiner davon.«

  1. Danke für das Abholen an einem Punkt, an dem genau das, was Du beschrieben hast, auch durch meinen Kopf geht. Es hilft alles etwas besser zu sortieren! Vielen Dank!!

  2. Tabea Niederhauser

    Herzlichen Dank!
    Ich fühle mich verstanden, deine Worte helfen mir heute, jetzt, den Tag zu leben.
    Im Moment brauche ich genau das.
    Du hast das, was du gut kannst- schreiben- genutzt, um zu helfen.

  3. Danke für diesen hochaktuellen Artikel, der sehr hilfreich ist. Der Verweis auf die Spendenmöglichkeiten ist großartig, habe ich gleich umgesetzt und so wenigstens ein bisschen das Gefühl der Machtlosigkeit lindern können.

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