Ein guter Schmerz: Warum Selbstliebe kein Schutzschild ist

Jans Mantra: Unfuck yourself. Foto: Birte Filmer

Dieser Artikel muss leider mit einer Entschuldigung anfangen. Zwei Jahre lang haben wir Techniken in die Welt posaunt, die dir helfen sollen, dich besser zu fokussieren und mehr zu erreichen. Aber Tipps wie „Schalte öfter dein Smartphone ab“ oder „Verbring nicht so viel Zeit auf Facebook“ sind keinen Deut besser, als einem traurigen Menschen zu sagen: „Lach doch mal!“ Es ist so wenig hilfreich, dass man es fast als böswillig bezeichnen könnte. Denn Sprüche, die andere so verkürzt motivieren sollen, etwas zu tun, zu dem sie momentan ganz klar nicht in der Lage sind, helfen immer nur den Personen, die sie sagen. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
Wir haben von Eisenhower bis Pomodoro alle Techniken und Apps ausprobiert und stellen fest: Sie helfen nur Menschen, die sich eh schon gut organisieren können. Wer Aufgaben nicht erledigt, hat ganz andere Probleme als mangelnde Organisationsfähigkeit (Prokrastination, Ein guter Plan 2018, S. 38).
Und diese Probleme kann man tatsächlich nur mit etwas Achtsamkeit erkennen und benennen. Wozu wir mindestens doppelt so viele Techniken veröffentlicht haben. Zum Glück.

Obwohl: diese Achtsamkeit. Beinahe hätte ich auch sie verdammt. Anfangs hat sie mein Leben so sehr bereichert wie nichts zuvor und mir mit Ein guter Plan und unserem kleinen Verlag so viel geschenkt, dass mir folgende Zeilen nicht leicht fallen.
Vor einem Jahr war meine Welt so in Ordnung wie noch nie. Ich hatte eine große Krise überwunden, unser kleiner Verlag wurde sehr erfolgreich, ich hatte alle meine Bedürfnisse benannt und man hörte mich oft zweifelhafte Dinge sagen wie „Meine Work-Life-Balance ist perfekt“ oder „Ich trenne nicht zwischen Work und Life, beides bedingt sich“. Je nachdem, mit wem ich gerade sprach. In meinem Freundeskreis war ich plötzlich der, der es irgendwie geschafft hatte. Ich hatte all meine Probleme scheinbar aus der Welt geräumt und wurde nun wesentlich häufiger nach Tipps in Lebenskrisen gefragt und für mein entspanntes Leben beglückwünscht. Wurde ich etwa das, worüber wir uns seit dem Start von Ein guter Plan lustig gemacht hatten: ein Achtsamkeits-Guru?

Achtsamkeit ist kein Schutzschild

Aber dann passierte das, wovor ich am meisten Angst hatte. Das, was für meine größte Lebenskrise zuvor verantwortlich war, und das, was ich dachte vermeiden zu können, wenn mein Fokus im Leben Achtsamkeit und Selbstliebe war: Mir wurde das Herz gebrochen. Und es war vielleicht sogar brutaler, als es jemals war: Denn es kam völlig unerwartet, schien ich doch unangreifbar. Wie sollte man mich noch verletzen können, wenn Selbstliebe durch meine Adern floss und ich in mir ruhte? Ein Stich ins Herz ist eine weit größere Überraschung, wenn man denkt, eine Rüstung zu tragen.

Egal, wer dich nicht liebt: Du bist genug. Mehr als genug. Immer.

Doch es passierte und da wurde es mir schmerzlich bewusst: Achtsamkeit ist kein Schutzschild. Und viel schlimmer: Diese ganze Selbstreflexion und das Öffnen meines Herzens hatte mich sogar verletzlicher gemacht. Mein Schutzwall aus Zynismus und Kälte existierte nicht mehr. Den Schmerz zu ignorieren war plötzlich gar nicht mehr möglich. Ich konnte es nicht fassen und dachte: Vielleicht bin ich nicht achtsam genug? Vielleicht muss ich mich noch viel mehr mit Selbstliebe beschäftigen? Aber nichts half. Ich war ratlos und dachte, all die Arbeit an mir war völlig umsonst. Denn was ist das für ein Lohn, wenn ich nun sensibler war? Ich ging durch einen sehr harten Monat, in dem ich mich so intensiv mit meiner Gefühlswelt beschäftigte wie noch nie. Warum war ich immer noch verletzbar? Ich hatte panische Angst, dass nun alte, destruktive Muster wieder zum Vorschein kamen. Ich war mir sicher: Entweder nahm ich jetzt wieder 10 kg zu, ließ mich hängen und beendete mein Sportprogramm oder ich würde meinen Körper wieder mit Diäten und gnadenlosem Sport zerstören oder perfektionieren (das sind auch nur zwei unterschiedliche Bezeichnung für dieselbe Sache).

Bau dir kein Verteidigungsbollwerk

Doch es war ein Wunder: Nichts davon geschah. Ich blieb wie ich war. Keine Diät, keine auf die Rückseite von Briefumschlägen panisch gekritzelten Sportprogramme. Die Taktik, dass ich durch zwanghaftes Kontrollverhalten versuche, Kontrolle in mein Leben zu bringen, wandte ich nicht mehr an. Und da gab es die zweite wichtige Erkenntnis: Achtsamkeit ist vielleicht ein beschissenes Schutzschild, aber sie ist ein verdammt guter Erste-Hilfe-Kasten. Und das ist manchmal mindestens genauso gut. Wenn du dahin schaust, wo es weh tut, tut es vielleicht mehr weh. Aber wenn es danach durchgestanden ist, ist es auch wirklich aufgearbeitet. Nichts ist schlimmer, als Schmerz zu ignorieren und darauf zu warten, dass er sich durch destruktive Verhaltensweisen seine eigenen Wege sucht, dich auf Probleme hinzuweisen. Wenn du hinschaust und den Schmerz annimmst, behältst du die Macht.

Schmerz zulassen: Sehr erwachsen!

Und so war eine potentiell gefährliche Situation durch reine Achtsamkeit entschärft. Was blieb, war diesmal kein Scherbenhaufen. Im Rückblick war es einfach ein anstrengender Monat. Aber ohne Verzweiflung, ohne Hoffnungslosigkeit. Dafür mit ein paar neuen Erkenntnissen:

  • Selbstliebe schützt nicht vor Schmerz und das ist ok.
  • Achtsamkeit hilft dir erst mal nur, dein Inneres zu beleuchten.
  • Dadurch kannst du die Dinge beim Namen nennen.
  • Probleme und Ängste zu erkennen und zu benennen tut weh.
  • Aber Dinge, die erkannt und benannt sind, können dich niemals lähmen.
  • Über alles, was dich nicht lähmt, hast du die Kontrolle.
  • Auch wenn es weh tut, und vielleicht sogar mehr weh tut: Es ist ein guter Schmerz.
  • Auch wenn es sich in dem Moment nicht so anfühlt: Es ist der Schmerz der bösen Geister, die dich verlassen.
  • Selbstliebe ist nichts weiter als Urvertrauen. Egal, was dich verletzt oder wer dich nicht liebt: Du bist genug. Mehr als genug. Immer.

Ich glaube, wir brauchen dringend neue Begriffe. Es ist weder Schwäche noch Verletzlichkeit. Es ist Mut zur Selbstreflexion. Kühnheit. Waghalsigkeit, dahin zu gehen, wo es weh tut. Wie bei einer Massage, die deine wunden Punkten berührt. Intensiv, bis ins Mark. Aber gut. Wohlschmerz. Das ist die Voraussetzung für Heilung. Trauen wir uns, angreifbar zu bleiben. Nutzen wir Achtsamkeit und Selbstliebe, um nicht eine falsche Stärke aufzubauen, die dann doch nur als Verteidigungsbollwerk dient. Akzeptieren wir, dass das Leben weiterhin wehtun wird. Verstehen wir, dass uns Dinge direkter treffen können, wenn wir sie benennen können. Und verstehen wir, dass wir dadurch Schlimmeres verhindern. Ein gutes Leben beinhaltet Schmerz. Sobald wir das akzeptieren, sind wir frei. Und das gibt mir Mut, weiterhin ins offene Messer zu laufen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Lauf gerne mit!

 


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über

Jan Lenarz ist Gründer und Geschäftsführer von Ein guter Plan. Der mehrfache SPIEGEL-Bestsellerautor engagiert sich politisch für mentale Gesundheit und schreibt über Achtsamkeit, Depression und Burnout. Er engagiert sich ehrenamtlich als Rettungssanitäter und Erste-Hilfe-Ausbilder. Bei den Einsätzen im Berliner Stadtgebiet wird seine hart antrainierte Gelassenheit regelmäßig auf die Probe gestellt. Website Instagram

30 comments on »Ein guter Schmerz: Warum Selbstliebe kein Schutzschild ist«

  1. Hallo Jan,

    vielen Dank für deinen so offenen Beitrag. Viele Punkte davon kann ich selbst sehr gut nachempfinden und stimme dir vollkommen zu, dass es immer Leben immer Höhen und Tiefen gibt. Es macht den Unterschied, wie wir damit umgehen. Ich selbst kenne diesen Teufelskreis negativer Gedanken nach Rückschlägen und Verletzungen nur zu gut. Erst bringt es das Selbstwertgefühl ins Wanken bis irgendwann jede Kleinigkeit an einem nagt und man sich nur noch schlecht, nutz- und wertlos fühlt. Das zu durchbrechen kostet viel Kraft und Selbstdisziplin, aber auch die Akzeptanz, dass es im Leben nicht immer alles eitel Sonnenschein sein kann. Wenn man sich aber einen Werkzeugkoffer zurechtlegt, um im Falle des Falles nicht sofort in Selbstzweifel zu versinken, ist schon viel geschafft. Neben der Arbeit an einem selbst spielt (zumindest bei mir) auch das engste Umfeld eine große Rolle, dass einen auffängt, aber auch daran erinnert, die Werkzeuge zu nutzen, statt sich hängen zu lassen. Auf diesem Weg merkt man (oft schmerzhaft) auch, wer einem dafür gut tut und wer eher noch Auslöser für solche Krisen ist. Ich habe im Zuge meiner letzten heftigen Krise, die mich wach gerüttelt hat, mein Umfeld auf den Prüfstand gestellt und ich mich von einigen Menschen gelöst, die mir nur Kraft rauben, statt mich auch mal zu unterstützen und ehrlich interessiert daran zu sein, was bei mir gerade so los ist, ohne ausschließlich ihre eigenen Probleme in den Fokus zu rücken. Neue Bekanntschaften lasse ich nicht mehr so schnell in mein Herz, sondern stelle auf den Prüfstand, ob sich geben und nehmen in dieser Beziehung ungefähr die Waage halten. Ich war nie der Mensch mit einem riesigen Freundeskreis, aber inzwischen habe ich mein Umfeld “gesund” geschrumpft und erkannt, dass auch wenige echte Freunde ausreichen, um glücklich zu sein. Denn das ist es doch, was wir am Ende alle wollen: ein glückliches und erfülltes Leben führen, zu dem auch Krisen dazugehören.

    Viele Grüße, Silke

    • mm
      AutorJan Lenarz

      Guter Punkt, Krisen sind definitv ein guter Zeitpunkt um Menschen, die einem nicht gut tun, auszusortieren.

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