Wieso wir keine Bodenampeln, sondern mehr Achtsamkeit brauchen

„Wie präsent bin ich eigentlich bei dem, was ich tue?“ Die ernüchternde Antwort: gar nicht

Ich bekomme täglich im Schnitt circa 60 E-Mails, über 100 Kommentare und 40 persönlichen Instagram-Nachrichten. Sieben Tage die Woche, wobei es am Wochenende etwas weniger E-Mails, dafür mehr Kommentare oder Nachrichten über Instagram sind. Manchmal fühlt sich das an, als wäre ich eine Piñata, von der alle ein Stück haben wollen. Nur ohne die hübsche, bunte Dekoration und die Tatsache, dass ich leider nicht aus Pappmachee, sondern aus Fleisch und Blut bestehe. Seit sieben Jahren schreibe ich nun schon meinen Blog, seit sechs Jahren bin ich auf Instagram registriert. Früher lud ich alle paar Tage ein Foto hoch, inzwischen sind es bis zu vier am Tag.

Plötzlich versiehst du dich, online wird zu offline und vice versa. Ein schönes Picknick mit Freunden bedeutet plötzlich Content, den man schnell noch mitnehmen kann, weil so richtig wie Arbeit fühlt es sich nicht an und gepostet werden muss heute sowieso noch was. Die vielen Kommentare beantwortet man dann schnell so nebenbei Sonntagabend, damit am Montag weniger Arbeit anfällt und damit es nun mal erledigt ist. Die unerträgliche Erreichbarkeit des Seins – willkommen in der Welt einer Bloggerin.

Und dann tauchte sie auf, die Frage: „Wie präsent bin ich eigentlich bei dem, was ich tue?“ Die ernüchternde Antwort: gar nicht. Den E-Mail Eingang aktualisieren, den Instagram-Feed schnell neu laden, rasch eine Pop-up-Benachrichtigung öffnen – automatisierte Handlungen gehören zu meinem Alltag. Solche Handlungen bedeuten immer eine mechanische Reaktion auf bestimme Reize, ohne jegliches Miteinbeziehen von Gefühlen, Bedürfnissen oder einer gedanklichen Einordnung. Die Fragen „Was mache ich eigentlich gerade?“ und „Wie fühlt sich das an?“ stellen wir uns vielleicht beim Meditieren, in einer Yin-Yoga-Pose, aber viel zu selten, wenn wir zum Handy greifen, weil es nun mal das ist, was wir täglich tun.

Gäbe es Bodenampeln, hätte ich sogar die übersehen

In einer Welt, in der immer weiter gescrollt wird, ist es schwer, nicht zu scrollen, sondern innezuhalten. Wer sitzt schon fünf Minuten lang vor einem Instagram-Foto und sieht es sich ganz genau an, so wie man das im Museum tut? Wir scrollen, liken, schließen, öffnen, schließen, öffnen.

Ich war ein Smombie (Smartphone-Zombie), schuldig im Sinne der Anklage. Gäbe es Bodenampeln, hätte ich sogar die übersehen. Social Media und Achtsamkeit – gibts das? Die letzten Jahre habe ich immer wieder Digital Detox praktiziert, zuletzt vier Tage, an denen das Handy wirklich durchgehend abgeschaltet war. Dann merkt man, wie gut es sich anfühlt, wieder haptischer zu werden. Einen Stift in die Hand zu nehmen, Worte auf Papier zu schreiben. Man fängt an, über Dinge nachzudenken oder Ereignisse zu verarbeiten, die man mit einem Griff zum Handy oft im Keim erstickt, weil man so oft Angst davor hat, sich mit dem Hier und Jetzt, den Emotionen, die manchmal im Kopf auftauchen, auseinanderzusetzen und stattdessen lieber belanglos Social Media nutzt. Bereits nach wenigen Stunden ohne Handy sprudeln oft Dinge aus dem eigenen Bewusstsein, von denen man nicht wusste, das sie überhaupt da waren und wir stellen fest, wie oft wir eigentlich mit Social Media der Realität entfliehen, uns nicht mit ihr
auseinandersetzen wollen.

Inzwischen versuche ich einen Digital Daytox einzulegen

Vor allem aber hilft offline sein, um wieder bewusster online zu sein. Statt Feeds und E-Mail-Programme im Minutentakt zu aktualisieren wie ein Affe, der auf seine Belohnung wartet, das Internet wirklich bewusst, wenn es gebraucht wird, zu nutzen.

Inzwischen versuche ich einen Digital Daytox einzulegen, also einen Tag die Woche, an dem das Handy hauptsächlich abgeschaltet bleibt. Sonst versuche ich, auf die Uhr zu schauen, wenn ich das Handy in die Hand nehme, um einen Überblick zu bewahren. Ich versuche, so weit das möglich ist, wie beim Meditieren oder Yoga eine Intention festzulegen, um stundenlanges, wirres Surfen ohne wahren Grund zu vermeiden. Noch gelingt es mir nicht so gut, wie ich möchte, aber ich bemühe mich. Es ist schwierig und eine Herausforderung, auch für mich und das jeden Tag, vor allem, wenn man beruflich an einen Bildschirm gebunden ist.

Doch wenn ich eines aus fast sieben Jahren Social Media mitgenommen habe, ist es, dass Social Media besonders dann sozial sind, wenn wir das Handy auch mal weglegen können und eine*n Fremde*n nach dem Weg fragen, in ein Gespräch kommen, unseren Nacken etwas entlasten, den Kiefer entspannen und tief durchatmend einen Moment nicht durch einen Bildschirm erleben. Wenn wir das Essen, das vor uns steht, bewusst und langsam kauen und wenn wir einmal mehr wahrnehmen, dass wir am Steuer unseres Leben sitzen und den Autopilot jederzeit deaktivieren können.

Dies ist einer von elf Gastartikeln aus Ein guter Plan 2018

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