Lerne Nein zu sagen: 5 Tipps, wie du Grenzen ziehst

Entdecke die heilsame Wirkung von vier Buchstaben

Minimalismus: Wenn du ihn nicht schon so sehr auf die Spitze treibst, dass du dich auch schon von jenen Gegenständen getrennt hast, die in der Regel auch im spartanischsten Zimmer am Ende noch übrig bleiben – deinem Laptop und deinem Smartphone – ist es kaum denkbar, dass du einen Weg an dem Thema vorbei gefunden hast. Vielleicht steht bei dir einmal im Jahr eine Kleiderschrank-Detoxkur an oder du hast deine Besitztümer auf 100 Gegenstände reduziert. Jeder, der sich schon mit dem Konzept auseinandergesetzt und es aufs eigene Leben angewandt hat, kennt die Effekte: reinigender als jeder Juice-Cleanse! Du fühlst dich klar und frei, leicht und erleichtert. Auf einmal ist da wieder frische Energie, Platz im Kopf für neue Ideen und Projekte.

Wenn es um überflüssige Gegenstände in unserem Leben geht, kennen die meisten das Prinzip und haben die Wirkung bereits selbst erlebt. Wie aber sieht es bei dir mit „überflüssigen“ Personen aus? Überflüssigen Zugeständnissen, Versprechen, Gefallen, Gesprächen?
Oftmals wird Minimalismus auch als Kritik am Materialismus gelebt – und das darf auch ruhig so bleiben. Die Idee ist aber viel zu gut, um sie nicht auch auf andere Bereiche zu übertragen!

Wer sagt, dass du Weihnachten mit deiner Großfamilie verbringen musst, wenn du nach zwei Tagen mit ihnen eigentlich zwei Wochen Urlaub brauchst? Was würde schlimmstenfalls passieren, wenn du dir die Treffen mit der Person, nach denen du dich jedes Mal nur ärgerst und ausgelaugt fühlst, ganz einfach sparst? Und nein, du kannst dieses Mal nicht „nur eben mal schnell noch“ und dieses Wochenende passt es dir einfach mal so gar nicht in den Kram. Punkt.

Autonomie vs. Einheit: die Differenzierung des Selbst.

Eines sollte auf jeden Fall klar sein: Wenn andere Menschen unsere Grenzen überschreiten, müssen wir uns zunächst einmal fragen, ob wir sie denn überhaupt jemals klar gezogen haben. Und wenn nicht: Warum.
Dem Psychotherapeuten Murray Bowen zufolge hat jeder Mensch im Laufe seines Lebens zwei mitunter gegensätzlich erscheinende Grundbedürfnisse auszubalancieren: Das Streben nach Autonomie auf der einen und den Wunsch nach Nähe und Gleichklang auf der anderen Seite. Wie gut diese beiden Bedürfnisse integriert sind, zeigt sich in der Differenzierung des Selbst.
Sie wird in einer 100-stufigen Skala angegeben, wobei die beiden Endpunkte nur hypothetisch existieren. 0 bedeutet „No-Self“, keinerlei Differenzierung. 100 steht für vollständige Differenzierung.
Menschen mit einem sehr niedrigen Wert (0 bis 25) sehnen sich übermäßig nach Einheit und Verschmelzung, führen symbiotische Beziehungen. Disharmonie und Kritik sind für sie nur schwer zu ertragen. Zwischentöne sind ihnen fremd. Sie kennen sich selbst nicht, haben keinen Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen und Grenzen.

Sich ihre eigene Meinung zu bilden – geschweige denn, diese auch noch zu vertreten – haben sie nie gelernt. Ihr Selbstwert ist völlig abhängig vom Urteil anderer, unter anderem auch davon, wie „brauchbar“ sie für diese sind. Weshalb es auch so unglaublich wichtig für sie ist, wie andere sie bewerten. Jemandem einen Gefallen auszuschlagen, einer Bitte nicht sofort nachzukommen – undenkbar. Genau aus dieser Quelle wird schließlich der eigene Selbstwert bezogen! Damit sind sie regelrecht angewiesen auf den ständigen Kontakt zu anderen, deren Bestätigung und Übereinstimmung. Was sie bedürftig und anhänglich macht. Die von chronischer Ängstlichkeit geprägte Grundhaltung reduziert den eigenen Bewegungsspielraum auf ein Minimum und macht vor allem eines – sehr, sehr unfrei.

Mit lieben Grüßen: bald ist Zweitausend-NEIN-Zehn!

Nur ein Mensch, der sich seiner selbst bewusst ist, kann Einheit und Trennung im Wechsel zulassen.

Auch Personen im Quartil 25 bis 50 haben wenig eigene Ansichten entwickelt und sind stets darauf bedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Unentwegt analysieren sie die Signale ihres Umfeldes, um Hinweise darüber aufzuschnappen, wie wohl gerade über sie gedacht wird. Sie entwickeln ein Pseudo-Selbst, welches sie tragen wie eine Maske. Es entspricht entweder völlig der Mehrheitsmeinung und bietet so ein gewisses Maß an Orientierung, Schutz und Sicherheit – oder ist dem großen Konsens komplett entgegengesetzt: Dagegen, einfach nur weil. Auch ein solches Anti-Selbst kann der Stabilisierung des Selbstbildes dienen, wenn ich mich z.B. als Rebell*in identifiziere.
Bei einem Wert zwischen 50 und 75 wird bereits das Entwickeln eines eigenen Standpunktes möglich. Personen in diesem Bereich können selbstständig Entscheidungen treffen und sind emotional weniger reaktiv. Diese Voraussetzungen ermöglichen es ihnen, sich in Beziehungen schon viel freier zu bewegen.
Menschen im Quartil 75 bis 100 sind prinzipientreu und zielorientiert. Sie haben klare eigene Überzeugungen und Ansichten, ohne jedoch dogmatisch daran zu hängen. Weder lassen sie sich allzu sehr von Lob einlullen, noch von Kritik aus dem Konzept bringen. Starke Emotionen müssen nicht sofort beschwichtigt, Ambivalenzen können ausgehalten werden.

Ziel sollte es sein, in Kontakt mit dem eigenen Erleben bleiben zu können.

Das Spannende dabei ist: Ein hoher Differenzierungsgrad erlaubt sogar mehr Verschmelzung, mehr Intimität als ein niedriger. Weil nur ein Mensch welcher sich seiner selbst bewusst ist und weiß, wo er steht, auch in der Lage ist, wieder zu sich zurückzufinden. Sowohl Einheit als auch Trennung im Wechsel zuzulassen.
Menschen, die in ihrem Prozess der Differenzierung weit fortgeschritten sind, können mit anderen einig sein, ohne das Gefühl zu haben, sich sofort im anderen zu verlieren. Sie können aber auch anderer Meinung sein – und dies auch problemlos offen und klar äußern – ohne sofort panisch zu befürchten, sich dadurch zwangsläufig zu isolieren oder gleich ihre gesamte Daseinsberechtigung aufs Spiel zu setzen.

Distanz gibt dir deine Handlungsfähigkeit zurück.

Ziel sollte es sein, in Kontakt bleiben zu können. Mit dem Gegenüber, wenn ich es möchte – und vor allem mit mir selbst, dem eigenen Erleben – auch wenn die Wogen mal hochgehen. Ohne Angst davor haben zu müssen, von den Empfindungen des Augenblicks überschwemmt zu werden.
Hohe Differenzierung geht mit der Fähigkeit einher, wann immer nötig eine objektive Perspektive einnehmen zu können: Wenn es gelingt, die Situation mit ein wenig innerer Distanz zu betrachten, kann ich meine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen.
Dann ist es auch möglich, freier zu entscheiden: Möchte ich mich gerade emotional auf die Situation einlassen, oder in diesem Fall vielleicht doch lieber etwas kühler, rationaler reagieren.
„Nein.“ ist ein ganzer Satz; Einer der wichtigsten überhaupt. Wie praktisch, dass er auch einer der kürzesten ist. Ihn sollten wir alle zu jeder Zeit zur Hand haben: er ist unser Ass im Ärmel, das wir nie zu zücken scheuen sollten! Er kann für sich allein stehen, bedarf keiner Ergänzung oder weiterer Erklärung. Minimalismus nach meinem Geschmack!

Bring Variation in dein Nein-Game

„Nein.“ ist ein ganzer Satz.

Hier sind fünf Tipps für dein bestes Nein:

1. Kenne deine Werte und Ziele.
Nur wer ganz genau weiß, wozu er innerlich ein lautes „Ja!“ schreien kann, weiß auch sofort, wenn sich etwas damit nicht vereinbaren lässt. Je klarer du deine Ziele vor Augen hast, desto weniger Schwierigkeiten wirst du haben, zu all dem Nein! zu sagen, was diesen Zielen einfach nicht förderlich ist.
Falls du das also noch nicht ausreichend getan hast: Frage dich zuallererst einmal, was dir ganz persönlich wirklich wichtig ist im Leben. Ein guter Plan kann dir im übrigen sehr behilflich dabei sein, dir Klarheit über deine Werte zu verschaffen.

2. Verschaffe dir Bedenkzeit.
Nicht nur die innere Distanz – auch ein wenig Abstand im Außen kann enorm wertvoll sein. Wenn wir uns unter Druck gesetzt fühlen, treffen wir viel eher Entscheidungen, die unter Umständen nicht so sehr zu unseren Gunsten ausfallen. Wir machen dann vorschnell Zugeständnisse oder sagen Gefallen zu, ohne ausreichend über die Konsequenzen nachgedacht zu haben.
Manche Menschen nutzen dies und überrumpeln dich mit ihren Anfragen immer genau dann, wenn es am allerwenigsten passt. Mal mehr, mal weniger bewusst. Auch wenn es in diesen Situationen den Anschein macht, als müsstest du auf der Stelle, noch zwischen Tür und Angel, eine Antwort abgeben: Das musst du einfach nicht. Sehr oft kann es schon helfen, dir ein wenig Luft zu verschaffen und dann wohlüberlegt und in Ruhe die für dich beste Entscheidung zu treffen. So einfach ist das.
Denk bitte daran: Die andere Person will etwas von dir. Verständnis dafür zu haben, dass du nicht sofort springst, ist also wohl das Mindeste und sich ein wenig zu gedulden muss drin sein.

3. Gib dir selbst Zeit – und experimentiere.
Grenzen ziehen will gelernt sein. Für jede Person kann sich etwas anderes stimmig anfühlen und gut funktionieren. Deine Grenzen sind nichts Starres, nichts ist hier in Stein gemeißelt: Sie können heute schon wieder anders aussehen als gestern. Sei nicht so streng mit dir, wenn du einmal die Betonwand hochziehst, wo es ein Lattenzaun auch getan hätte. Nimm dir die Freiheit, dich auszuprobieren und zu experimentieren! Finde dein eigenes Maß und die für dich besten Strategien.

4. Vergiss nicht den Spaß an der ganzen Sache.
Verbünde dich mit deinem inneren Kind in der Trotzphase, tobt euch aus! Und taste dich mit einer spielerischen Einstellung an deine individuellen Grenzen heran.

5. Genieße.
Koste alles aus, sowohl die Effekte als auch die vielen – kleinen, großen, auch die winzigsten – Schritte hin zu deinem Nein. Und dann lass es dir langsam und genüsslich auf der Zunge zergehen … Genieße jeden einzelnen dieser wunderbaren, magischen Buchstaben!

Lass Minimalismus dein Werkzeug sein. Das Werkzeug, mit dem du Überflüssiges in deinem Leben loswirst. Und sei in deinem sozialen Umfeld mindestens genauso streng wie mit deinen ausgewaschenen Klamotten, keine faulen Kompromisse!

Ein „Nein“ an der richtigen Stelle macht Platz für ein „JA!“ zu dir und zu allem, was dich mehr zu dir selbst und deinen persönlichen Zielen näherbringt, dich inspiriert und dir Energie gibt.


10 comments on »Lerne Nein zu sagen: 5 Tipps, wie du Grenzen ziehst«

  1. Sehr guter Artikel, der meine Gedanken und Gefühle der letzten Zeit auf den Punkt bringt und zusammenfasst. Danke dafür ! 🙂

  2. Kann es ein Zufall sein, dass dieser Beitrag gerade jetzt zu mir kommt? Ich grüble seit längerer Zeit über das Thema Nein-Sagen und Grenzen-Setzen nach und probiere mich gerade in der Praxis aus. Es ist so wichtig und so wertvoll, dass du einen so schönen Artikel darüber geschrieben hast. Ich danke dir dafür!

  3. Sehr wertvoller Artikel, danke dafür! Gerne mehr davon 🙂

  4. Super Artikel und so wichtig! Danke! Wie lässt es sich auf die Mama-Rolle übertragen? Ich wusste vorher sehr genau was meine Grenzen sind … diese haben sich mit meinen Kids jedoch (zwangsläufig :)) etwas verschoben. Und gibt es ggf einen Trend, dass viele Menschen beim Eltern-Werden vom oberen Drittel ins untere rutschen? Fragen über Fragen :))) Liebste Grüsse! Kathrin

  5. Toller Beitrag – genau zur richtigen Zeit, denn vor exakt dieser Herausforderung steh ich schon lange, nur dass ich es nie so aus formuliert bekommen hätte, geschweige denn den Nagel so auf den Kopf hätte treffen können – vielen Dank, der Beitrag hilft mir sehr! 🙂

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