Zeit für Neuorientierung: Über wohlwollende Rückschau und achtsames Planen

60 Sekunden Zeit für die Jahresabschlussreflexion

Manchmal kommen wir selbst auf die Idee, uns neu zu orientieren, manchmal bekommen wir die eine oder andere Neuorientierung aufgedrängt und ein Mal im Jahr ergibt sich kalendarisch ein Neuanfang, der von einigen gerne als Anlass genommen wird, sich neu zu orientieren.
In den vergangenen zwei Jahren ist wohl niemand unbehelligt geblieben von den pandemischen, oder auch klimatischen und auch allerlei anderen Veränderungen der Welt. Ob wir wollen oder nicht, sickern diese auch in unsere privaten Leben und drängen darauf, uns den Gegebenheiten anzupassen, uns auf Veränderungen einzustellen und mit Neuigkeiten zu arrangieren.

Zum Glück haben wir die Fähigkeit, uns bewusst zu orientieren und damit adäquat auf unser Innenleben und unsere Umwelt zu reagieren. Natürlich können wir uns auch mühevoll durchs immer dichter werdende Gestrüpp schlagen, ohne aufzublicken, oder nach innen, oder rechts und links. Im Gestrüpp landen wir von ganz allein. Sich zu orientieren oder nicht, sind nur zwei verschiedene Sorten von Anstrengung.

Vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran

Das Wort Neuorientierung taucht meistens im beruflichen Kontext auf. Da der überwiegende Teil von uns damit beschäftigt ist, die meiste Zeit des Lebens damit zu verbringen, einen Lebensunterhalt zu verdienen, ist dieser Zusammenhang sicherlich nicht ganz aus der Luft gegriffen. Trotzdem ist die Begrenzung auf Berufliches etwas eng – weswegen es hier mehr um eine allgemeinere Form von Neuorientierung geht, beispielsweise, wenn die Menschheit gerade zwei krasse Jahre hinter sich hat und sich wünscht, ein wenig damit abschließen zu können und einen vorsichtigen Neuanfang zu starten, so weit dieses möglich ist, zumindest mental. Aber nicht nur dann. Ab und zu mal stehen zu bleiben, sich umzuschauen im Leben und zu entscheiden, ob man den Weg weitergeht, den man eingeschlagen hat, oder ob man sich verlaufen hat, aber gerne wieder wüsste, wo es lang geht und was überhaupt das Ziel ist – das schadet alles nicht, im Gegenteil.

Erst die Rückschau, dann die Vorsätze

Als jemand, der im Durchschnitt alle drei Jahre eine Art neues Leben beginnt, spreche ich mir selbst eine gewisse Kompetenz im Bereich Neuorientierung zu. Kalendarische, aber auch selbst festgelegte Punkte im Kalender, ab denen etwas Neues beginnt oder zumindest in der Theorie eine neue Richtung eingeschlagen werden kann, gefallen mir richtig gut. Ich begeistere mich für neue Jahre und gute Vorsätze, Silvester eher weniger, aber es gehört dazu. Vorsätze einzuhalten ist dabei weitaus weniger wichtig als das Gefühl, sie zuerst einmal zu haben.

Mindestens 1x im Verlauf der Jahreszeiten kriegen wir symbolisch eine neue Chance, einen Gutschein, den man einlösen kann, ein Angebot, sich erneut den Dingen zu widmen, die liegen geblieben sind, noch nicht so gut geklappt haben, oder neu aufzunehmen. Ich nehme dieses Angebot meistens sehr gerne an, Altes abzustreifen, und freue mich auf Neues und Frisches, Unverbrauchtes. Ein Jahr ist alle, eine Phase ist vorbei, eine Vergangenheit beendet. Ich kann eine neue Packung aufmachen, bislang unbekannte Erfahrungen in meinen Rucksack hinein sammeln, eine neue Zeitrechnung starten, mich neu ein- und ausrichten. Zwar gibt es einerseits manchmal Trauer über Verluste, Unwiederbringliches oder Gescheitertes, andererseits lässt sich aber viel Kraft aus Vorfreude ziehen, was sehr tröstlich ist.

Der Wald vor lauter Bäumen

Orientierung, das Sich-Zurechtfinden in einer Gegend oder Räumen, kann nur anhand von „etwas“ stattfinden. Zum Beispiel anhand von Markierungen, Himmelsrichtungen, Hinweisen, Erkenntnissen, Erfahrungen, Gefühlen, Werten oder Zielen.
Es gibt ein paar weit verbreitete Anlässe für Neuorientierung im Leben, wie z.B. die bereits erwähnte berufliche, durch Unzufriedenheit oder auch einfach Pech, das einem widerfährt. Aber auch Trennungen egal welcher Art können große Umwerfungen im Leben zur Folge haben. Krankheiten können uns zwingen, neue Wege einzuschlagen. Doch auch Krisen, die keine persönlichen oder privaten, sondern globaler Natur sind und von denen langfristig niemand verschont bleibt, können und sollten uns im besten Fall dazu bewegen und motivieren, uns neu zu orientieren. Zwar muss es nicht immer erst hart auf hart kommen, bis wir den Kurs ändern, überwiegend erscheint es aber so, dass Menschen dazu neigen, insbesondere Krisen als Anlass für Kursänderungen zu nehmen.

Hilft dir herauszufinden, was 2022 wirklich wichtig wird

Egal was dein Anlass dafür ist, dass das Thema Neuorientierung interessant für dich klingt, es gibt ein paar Überlegungen, die du immer zur Hilfe nehmen kannst.
Eine Neuorientierung oder ein Neuanfang muss nicht zwangsläufig mit einem großen Knall einhergehen oder in irgendeiner anderen Weise groß und laut sein. Du kannst einfach still und leise für dich beschließen, dass ab einem gewissen Zeitpunkt ein paar Dinge anders laufen als bisher.

Schritt für Schritt

Den Weg einer Neuorientierung zu einem Neuanfang geht man wie am besten jeden anderen auch: Schritt für Schritt. Zur Orientierung beim Orientieren gibt es hier einen gedanklichen Fahrplan, den du dir zu Hilfe nehmen kannst, wenn du Lust auf einen Neustart hast.

  1. Womit möchtest du abschließen? Was genau soll oder kann nicht so weitergehen wie bisher? Welchen Weg möchtest du verlassen? Was muss sich ändern? Was willst du ändern? Was kann überhaupt geändert werden? Und auch sehr wichtig: Was soll so bleiben wie es ist? Schreib am besten auf, was dir auf dem Herzen liegt, in Stichpunkten, oder schreib dir alles in egal welcher Form von der Seele, was dir dazu einfällt. Oder erzähl es Freund*innen, dem Sofakissen, den Zimmerpflanzen. Transportiere es aus dir heraus, egal wie. Vielleicht war das letzte Jahr einfach streckenweise schwierig und du bist froh, wenn du damit abschließen kannst. Schreib auf, wovon du dich gerne verabschiedest, welchen schmerzhaften Erfahrungen du goodbye winken kannst. Egal was es ist, hol es raus aus der Schublade und lass es laufen. Schaff zuerst Platz für neue Erfahrungen und Wege, indem du Vergangenes richtig verabschiedest, Tränen und Taschentücher können da durchaus dazu gehören. Damit machst du dich innerlich bereit für Neues.
  2. Warum willst du einen neuen Weg einschlagen, warum soll irgendetwas zu einem Ende kommen, warum soll etwas in deinem Leben nicht so weitergehen wie bisher, warum hast du Lust auf etwas Neues, warum hast du keine Lust mehr auf das Alte? Egal was wir vorhaben, tun, oder lassen wollen: Am besten gelingt uns das garantiert, wenn wir einen guten Grund dafür haben, der uns völlig glasklar ist. Als vernunftbegabte Wesen machen wir am liebsten, was uns einleuchtet. Je konkreter du deine Gründe benennen kannst, desto einfacher ist es, wirklich eine andere Richtung einzuschlagen.
  3. Woran hast du dich bisher orientiert? In den seltensten Fällen macht man sich zwischen Wäsche aufhängen und Abendessen zubereiten zufällig mal Gedanken darüber, was man bislang eigentlich so als Orientierungspunkte im Leben genutzt hat und ob die gut taugen, oder eher nicht. Einige Orientierungspunkte haben wir bestimmt einfach übernommen, von den Leuten, die uns aufgezogen haben, von Freunden, aus Medien, Werbung. Viele Wegweiser, denen wir folgen, folgen wir einfach nur, weil sie da sind. Daran ist auch nicht schlimmes, nur wenn wir merken, dass uns der Weg in Wirklichkeit gar nicht gefällt, den sie entlangführen, kann man diese Wegweiser ja mal überdenken. Welche Werte oder Ziele hast du vielleicht einfach aus deiner Erziehung mitgenommen, die du weiterhin mit in deine Entscheidungen einbeziehst, obwohl du dich eigentlich in eine ganz andere Richtung entwickelt hast oder entwickeln möchtest? Welche Werte haben dich geleitet? Möchtest du bei diesen Orientierungspunkten bleiben, oder wäre es besser, den einen oder anderen auszutauschen oder zu erneuern?
  4. Wo kommst du her und wo willst du hin? Nachdem dir jetzt sehr klar vor Augen ist, was hinter dir liegt und dort bleiben soll, hast du sicherlich noch deutlicher vor Augen, wo du eigentlich hin willst. Bestimmt schwebte dir vorher schon etwas vor, aber in Abgrenzung zur vorherigen Übung, kristallisiert sich möglicherweise ein noch viel deutlicheres Bild heraus. Du weißt jetzt, wie es nicht mehr sein soll, wie es nicht weitergehen soll. Aber wie sieht es da aus, wo du hin willst? Was ist da anders, wie verhältst du dich, welche Gedanken begleiten dich? Wie sieht das Leben aus, das du gerne leben möchtest, die Gesellschaft, deren Teil du bist, das neue Jahr, das vor dir liegt? Mit wem verbringst du Zeit, wofür gibst du Geld aus, welchen Faden möchtest du verfolgen?
  5. Reiseplanung. Es geht nicht darum, dass du ab morgen ein neuer Mensch bist oder ein komplett neues Leben führst, sondern darum, deinen Wünschen und Bedürfnissen nach, dir und/oder deinem Leben eine neue Richtung zu geben bzw. mit einer Sache abzuschließen und eine neue zu beginnen. Wenn du nun deinen imaginären Rucksack für den Richtungswechsel packst, dann nimm mit, was gut war. Frag deine FreundInnen, mit denen du dich wohl fühlst, ob Sie mitkommen wollen. Frag jemanden, den du gerne dabei hättest, ob er*sie Lust hat, dich zu begleiten. Stell dir eine Playlist zusammen, mach dir Brote, vergiss den Saft und die Schokolade nicht. Und ein Buch! Wen kannst du anrufen, wenn du nicht weiterkommst? Wo kannst du dich ausruhen? Wo kannst du nachschauen?
  6. Wohlwollende Rückschau. Auf einem motivierten Weg in die Zukunft kann es passieren, dass die Vergangenheit schlechter dargestellt wird, als sie in Wirklichkeit war. Durch eine Rückbesinnung auf das, was gut war, wird dir bewusst, was du mitnehmen kannst und solltest. Was hat dich in der Vergangenheit getragen und wie kannst du dafür sorgen, dass du dich auch in Zukunft dort fallen lassen kannst? Nimm mit, was gut war. Kümmer dich gut darum, damit es dir erhalten bleibt. Wer oder was waren deine Anker? Welche Erinnerungen an Begegnungen, Gespräche oder kleine Momente haben dich gefreut, gestärkt, dich zuversichtlich gestimmt? Was hat dir gefehlt und wie kannst du es bekommen? Wenn es kein Netz gibt, in das du dich fallen lassen kannst, strick dir eins. Halt, Hoffnung und Herzerwärmung sind nicht nur Schicksal. Man kann sie auch suchen und finden.
  7. Du kannst dir endlos viele Fragen stellen und stellen lassen, die dir dabei helfen können, dir selbst auf die Schliche zu kommen und dich zu reflektieren. Die Fragen, auf die es aber auch beim Thema Orientierung am meisten ankommt, sind so einfach und schwer gleichzeitig:
    Was sind deine Werte?
    Und: Was ist dir wirklich wichtig? Wenn du die Antworten hast, wirst du immer wissen, wo es lang geht. Es lohnt sich also, die Antwort zu finden. Gute Reise!

2 comments on »Zeit für Neuorientierung: Über wohlwollende Rückschau und achtsames Planen«

  1. Irene Thiele

    Liebe Kathrin, dein Artikel gefällt mir sehr gut. Ich will Dinge ändern und muss das auch, stecke irgendwie fest. Was du geschrieben hast, weiß ich alles (!), aber es so schön aufbereitet zu lesen, empfinde ich als Einladung, die ersten Schritte zu tun, danach die folgenden und zwischendurch weitere zu finden und dabei auch sich selbst in einer neuen Ausrichtung. Du machst Lust auf Perspektiven.
    Vielen Dank!
    Irene

  2. Wunderschön! Ich werde gleich mein Rucksack packen!

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