Fühlt man sich so, als würde einem etwas fehlen, scheinen Coachings und Seminare verlockend, um etwas nachzuhelfen. Warum die magische Transformation vermutlich dennoch ausbleibt und wie man Angebote kritischer hinterfragt, um das Richtige zu finden..
»Sag mal, Theresa, hast du vielleicht einen Tipp für mich? Ich würde mich gern sexuell weiterbilden, aber das Angebot, das Google mir ausspuckt, schreckt mich erst mal ziemlich ab. Woran erkenne ich denn, was seriös ist und mir guttun wird?«
Solche Nachrichten landen ziemlich oft in meinem Postfach. Und gleich vorab: ich kanns verstehen. Auch ich habe die lustigere Hälfte meiner 20er damit verbracht, von einem Workshop zum nächsten Coaching zu hoppen und habe dabei von Schweigeretreat und Domina-Schnupperseminar bis hin zur Selbsterfahrung und Supervision in der Sexualberaterinnenausbildung wirklich wenig ausgelassen. Einerseits, weil ich als Journalistin, die hauptsächlich über Sex- und Psychologiethemen schreibt, über nichts urteilen wollte, was ich nicht selbst auch ausprobiert habe – und andererseits, weil es, na ja, natürlich einfach auch wirklich sehr lustig und interessant sein kann.
Wie gut oder schlecht diese einzelnen Erfahrungen jeweils für einen sind, weiß man natürlich oft erst hinterher – oder wenn einem Jahre später Dokumentationen wie »The Orgasm Cult« auf Netflix ein paar unangenehme Flashbacks bescheren. Zum Glück wird inzwischen, so wie in vielen anderen Branchen auch, vermehrt über Machtmissbrauch diskutiert – und einige der Strukturen und Red Flags werden so immer offensichtlicher.
Für meinen Podcast LVSTPRINZIP habe ich mit Sektenexpertin Anke Richter und Coaching-Kritikerin Charlotte Raven gesprochen. Denn egal, ob es speziell um den eigenen sexuellen Horizont geht, oder das sehr große und ziemlich schwammige Thema »Persönlichkeitsentwicklung« allgemein: das Gefühl, dass einem irgendetwas fehlt, und man mit einem Coaching, einem Workshop, einem Seminar etwas nachhelfen könnte, kennen viele Menschen, darunter gerade auch viele Frauen.
Ich – nur besser
So wie Charlotte Raven. Sie arbeitete im Marketing, hatte eine Reihe unspezifischer Beschwerden, und fühlte sich vom deutschen Gesundheitssystem damit allein gelassen. Und landete, wie sie selbst schreibt, »ganz unten«: von Energieheilungen, Chakrenreinigungen, Transformationsworkshops über Yoni-Zeremonien bis Zirbeldrüsen-Aktivierung, Seelenrückführungen bis zur 5D-Ebene hielt sie sich an allem fest, was ihr Freiheit, Heilung, Glück und Besserung versprach.
»Was passierte, war, wenn ich ganz ehrlich bin … nichts. Okay, nicht ganz nichts, ich wurde sehr viele Tausend Euro ärmer, habe mich schlussendlich selbst komplett verleugnet und ständig selbst gegaslighted, wurde retraumatisiert und lebte nicht zuletzt in einer völlig realitätsfernen Bubble mit Leuten, die das Ganze auch noch pushten« schreibt Raven, die dieses System inzwischen scharf kritisiert.
Dass es vor allem Frauen sind, die sich von diesen Heilsversprechen angezogen fühlen, findet Raven ganz logisch. Die Coaching-Szene kann ihrer Meinung nach nur leben, weil in anderen Systemen Menschen über Bord geschmissen werden: »Das geht über die Arbeitsgestaltung, über Politik und soziokulturelle Faktoren und endet beim Gesundheitssystem.«
In einer Gesellschaft, in der Frauen immer noch deutlich weniger verdienen, sich überproportional um Haushalt und Kinder kümmern, von medizinischer Seite weniger Beachtung erfahren und sich auch ansonsten weniger gesehen und ernst genommen fühlen, bieten wertschätzend wirkende Communities Halt.
Dort bekommt man dann verinnerlicht: »keine Nachrichten, kein Mainstream, keine Kritiker, keine ›Energievampire‹ – alles schön im Sinne des eigenen Glücks eliminieren, damit man bloß nicht ins ›Lower Self‹ rutscht und negativ beeinflusst wird.« Oder, wie Raven es heute sieht: »Möglichst alle Stimmen aus dem Leben entfernen, die noch einen Bezug zur Realität haben, damit es für die ›Leader:innen der neuen Zeit‹, wie sie sich selbst gern nennen, einfacher ist, ihre Follower:innen zu beeinflussen und schlussendlich zu indoktrinieren und zu brainwashen.«
Niemand sagt: Ich will einer Sekte beitreten
Auch Sektenexpertin Anke Richter, die unter anderem zur Sex- und Therapiesekte Centerpoint und dem christlich-fundamentalistischen Gloriavale in Neuseeland recherchiert hat, in Oshos Meditationszentrum in Pune war und geholfen hat, das #Metoo der Neotantra-Szene bei Agama Yoga in Thailand mit aufzudecken, sagt: »Sekten sind ein feministisches Problem. 40 Prozent aller Frauen in Sekten werden sexuell missbraucht, das ist erforscht.«
Egal ob Hippies oder fundamentalistisches Handmaid’s Tale Setting: »Das verbindende Element ist der sexuelle Missbrauch. Es wird vieles kontrolliert – was man isst, wie man schläft, und auch die Sexualität. Entweder wird gesagt, dass man asketisch leben soll und zum Beispiel Sex nur zur Fortpflanzung da ist, oder dass man streng monogam oder eben polyamourös ist – immer gibt es Regeln zur Sexualität.«
»Keiner von uns sagt ›ich will einer Sekte beitreten‹ – natürlich nicht! Man sucht sich den Coach oder das Wochenendseminar oder ein Festival aus, das neu und aufregend klingt. Dieses Klischee vom dummen, verstrahlten, verlassenen, einsamen Sektenmitglied, das müssen wir wirklich loslassen«, sagt Anke Richter.
Und klar: ganz so dramatisch muss es nicht immer kommen. Nicht auf jedem Sexpositive-Rave lauern finstere Mächte, einige Coaches haben ja auch tatsächlich unsere persönliche Weiterentwicklung im Sinn, und Gruppendynamiken haben immer auch das Potential, einen mit den eigenen Themen in Kontakt zu bringen. Sich (gemeinsam) ausprobieren, neue Erfahrungen machen – natürlich ist das spannend. Aber was ist ein sicherer Rahmen dafür – und wo sind die Red Flags?
Die Red Flags
Laut Charlotte Raven, die lange auch selbst im Marketing für Coaches gearbeitet hat, beginnt es genau da: Wenn einem jemand sagt, man müsse erst 10.000 Euro in einen Onlinekurs investieren, um dem Universum oder einer anderen höheren Macht zu signalisieren, dass man es wert sei, endlich Fülle und Reichtum zu empfangen, ist das »einfach nur eins: moderne Ablassbriefe. Wir müssen nicht erst beweisen, dass wir wertvoll sind. Wir sind wertvoll, jederzeit. Auch wenn wir das manchmal so gar nicht fühlen. Das gehört zum Leben dazu. Der Knackpunkt ist, dass solche Aussagen und Ansichten die tief sitzenden Wünsche in dir ansprechen, dich wertvoll, anerkannt und wertgeschätzt zu fühlen. Es ist der Inbegriff eines kapitalistisch geprägten Systems, das auf Angst-Wunsch-Hoffnungs-Marketing (Scarcity-Marketing) aufbaut, so verkleidet, dass es wirkt, als wolle man den Menschen helfen und die Welt retten. Am Ende profitieren aber nur die, die diesen Glauben predigen.«
Also sich lieber erst mal kurz nüchtern fragen: Kann und will ich mir das überhaupt leisten, oder brauche ich das »Investment« oder den »Energieausgleich« eigentlich dringender für andere Dinge? Welche Versprechungen werden gemacht und sind sie überhaupt realistisch und plausibel? Welche nachgooglebaren Qualifikationen hat der*die Anbieter*in? Und gibt es auch Raum für kritische Stimmen?
Gerade denen sollte man im Zweifelsfall glauben, findet Sektenexpertin Anke Richter. »Das kann ich als Reporterin sagen: Es braucht eine Menge, bis etwas in die Presse kommt. Sehr viele Checks, meistens schon irgendjemanden, der zur Polizei gegangen ist. Die Justiziare gehen da drüber und schmeißen die Hälfte wieder raus. Wenn man online einen Medienbericht findet, kann man davon ausgehen, dass das wirklich nur die Spitze des Eisbergs ist.«
Sie sieht vor allem Organisationen kritisch, in denen der Sex zwischen Schüler*innen und Lehrkräften erlaubt ist – denn sobald man Geld bezahlt hat, gibt es ein Machtgefälle.
»Abgesehen davon, dass man natürlich in solchen Kursen auf einem ›Workshop High‹ ist, überflutet von Endorphinen und Dopamin, das ist alles erforscht worden. In diesem Rausch will man auch nicht außerhalb der Gruppe stehen, man will das gleiche Ergebnis, die gleiche tolle Transformation haben wie alle anderen. In so einem Zustand ist man doch gar nicht in der Lage, vielleicht mal in Ruhe ein, zwei Tage lang zu überlegen: ›Will ich denjenigen wirklich, oder will ich vielleicht einfach haben, was jeder hier in der Gruppe hat? Würde das jetzt wirklich noch meiner sexuellen Heilung dienen, wenn ich nachher auf dem Zimmer mit dem Kursleiter noch ‘ne Nummer schiebe?‹«
Der Druck, ebenfalls positive Erfahrungen zu empfinden, lässt sich in Konformitäts-Experimenten reproduzieren: Menschen gleichen ihre Meinung aus Angst vor Ausgrenzung an, und gaslighten sich selbst – oder werden von anderen gegaslighted, wenn sie sich kritisch äußern – ihnen wird eingeredet, sie sprächen aus einer »Opferhaltung«. »Bei fast allen spirituellen, aber auch vielen religiösen Gruppen gibt es dieses ›Das hast du dir selber eingebrockt, das hast du selber angezogen‹, aber auch: Es ist gut für deine eigene Heilung, für dein eigenes Wachstum, das ist doch eine Chance. Sei doch dankbar, dass dir das passiert ist, weil jetzt kannst du dir doch angucken, wie du darauf reagierst und was du da noch brauchst. Eigentlich solltest du doch demjenigen dankbar sein, der dir das angetan hat, der hat dir doch eine Chance gegeben, dass du jetzt wachsen kannst« sagt Anke Richter.
Abgesehen davon, dass »Wachstum« durch Machtmissbrauch und Manipulation wohl kein besonders nachhaltiges ist – wie realistisch ist dieses Streben nach Heilung und Weiterentwicklung überhaupt, das diese komplette Szene antreibt?
Sind wir jetzt endlich geheilt?
Heilung bedeutet, dass etwas kaputt ist – und kaputt fühlen wir uns alle manchmal, egal ob traurig, müde, wütend, hässlich, erschöpft oder alles zusammen. Aber dieser magische Punkt, an dem sich plötzlich alles logisch zusammenfügt und nichts mehr wehtut? Auf den können wir lange warten – oder es einfach sein lassen. Bei schmerzhaften Prozessen und Themen vielleicht eine Psychotherapie beginnen – und uns darauf einlassen, dass Veränderung ihre Zeit braucht.
Es hat einen Grund, warum zwischen zwei Therapiestunden meist ein ein- bis mehrwöchiger Abstand liegt. Wir alle brauchen Zeit, Dinge sacken zu lassen und uns neu zu sortieren. Ein*e gute*r Therapeut*in oder Coach ist dabei im besten Fall eine Art Sparringspartner*in, deren Plan es sein sollte, uns mittelfristig auch wieder loszuwerden – idealerweise mit einem zu Beginn der Zusammenarbeit klar definiertem Ziel, das dann am Ende erreicht worden ist, und viel Empathie für die Themen, die auf dem Weg dorthin aufkommen.
Auch Anke Richter steht allen »magischen Transformationen« inzwischen höchst kritisch gegenüber: »Diese ganze Schreierei, mit Hauruck alles rausholen, und das Leben ist in 24 Stunden anders – das hat Leute auch kaputt gemacht, das weiß man doch mittlerweile alles. Das gibt es nun auch schon seit den 1970ern, und da hat es doch mittlerweile genug Opfer und genug Schaden gegeben in dieser ganzen New-Age-Therapieszene, mit Gestalt und Encounter. Andere Berufszweige müssen sich doch auch updaten und bestimmten Standards folgen.«
Ich frage sie, ob es eine Art Code of Conduct oder Gütesiegel geben sollte für den »Sexual Healing«-Markt. »Das ist eine schwierige Diskussion. Hier in Neuseeland diskutieren wir ›Safe Spaces‹ versus ›Transformative Spaces.‹. Alle, die traumainformiert arbeiten, sagen ›Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit.‹, und dann gibt es die, die sagen, Sicherheit kann man sich nur selber geben, das kann nicht von außen kommen. Damit liegt der Druck auf einem selbst – wer sich nicht sicher fühlt, macht etwas falsch – Bullshit! Ich bin nicht dagegen, dass Leute crazy Shit machen oder extreme sexuelle Erfahrungen. Dann müsste man ja die ganze Kink-Szene verbieten. Man kann im Konsens miteinander völlig extreme Sachen machen, aber dafür braucht es Sicherheitsmaßnahmen, Safewords und Absprachen«
Und im Idealfall natürlich auch eine Welt, in der mit Sexualität und persönlichen Struggles freier umgegangen werden kann. Dann würden sich vermutlich viele von uns direkt ein Stück weniger kaputt fühlen.
Noch mehr zu diesem Thema hörst du im Podcast LVSTPRINZIP in den Folgen #24-Macht und #35-Coaching.
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