Von Geburt an wütend

Wie ich mich aus der größten Krise meines Lebens gekämpft habe und was du daraus lernen kannst

blogx

“So fühlt sich also ganz unten an”, sagte ich zu mir. Nachts mit dem Rad durch Schnee und Schlamm, auf dem Weg in eine beschissene Wohnung. Völlig überarbeitet, gestresst, mit gebrochenem Herzen. Unfit, unzufrieden und voller Hass auf mich und die Welt. 35 Jahre alt, nichts geschafft und todunglücklich. Die besten Freunde verloren, eine großartige Frau verloren, völlig pleite und 20 Deadlines im Rücken.

Wenn man ganz unten ist, kann es nur bergauf gehen, sagt man. Aber das stimmt nicht. Denn es kann auch genauso beschissen bleiben. Für den Rest deines traurigen Lebens. Und dass meins nicht mehr sehr lang sein würde, da war ich mir sicher. Die fünfte verschleppte Grippe dieses Jahr, keine Zeit für Sport, keine Erfüllung im Job. Ich war mir sicher, dass ich heute oder in den nächsten Tagen tot vom Rad fallen würde und vielleicht war das die beste Lösung. Jähzorn und Selbstmitleid sind eine schlechte Mischung nachts im Schnee auf dem Rad in Berlin.
Es schien mir unfair, denn ich hatte versucht gut zu sein. In mir war immer Liebe und ich hatte versucht sie offensiv in die Welt zu tragen. „Spread love like violence“ hatte ich mir vor einigen Jahren auf den Unterarm tätowiert, aber es kam scheinbar keine Liebe zurück. Und die, die zurück kam konnte ich nicht annehmen. Denn man kann nur das Maß an Liebe annehmen, das man denkt zu verdienen.
Und dennoch: es war noch etwas Kraft unter all der Wut.

Die kürzeste Therapie der Welt

Ich war am Ende und sah aber in dieser Nacht ein, dass ich professionelle Hilfe benötigte. Depression hieß meine Selbstdiagnose. Mein Hausarzt unterschrieb‘ mir die Bescheinigung für die Therapie und klopfte mir im Flur der Arztpraxis mitleidig auf die Schulter. „Ach, das wird schon wieder. Jeder hat mal ‚nen schlechten Tag.“
Zu meiner Überraschung war meine Therapie nach 5 Sitzungen von 50 schon beendet. „Sie sind nicht depressiv, sie sind von dem Glauben, dass alles gut sein muss besessen, und Sie klammern sich an ihre Schuldgefühle. Sie brauchen Urlaub und müssen ihre Kraft wiederfinden. Vielleicht haben sie eine gute Beziehung zerstört, aber verzeihen Sie sich. Es ist so viel Liebe und Gutes in Ihnen, aber sie lassen das nicht zu. Sie stehen sich selbst im Weg. Ihre Wut überlagert ihre Liebe. Lassen sie endlich los.“ Das saß – und es war der nötige Arschtritt den ich brauchte. Ich dankte ihr, aber sie winkte nur ab, „ich habe Ihnen nicht geholfen. Das war schon alles in Ihnen. Sie wissen ganz genau, was sie brauchen, und jetzt holen Sie es sich bitte.“

Batman töten

10865242_1645946525632630_735808967_n

Abends googelte  ich „schönster Ort in Mexiko“, drei Tage später war ich in Sayulita. Während ich in anderen Urlauben wie so viele Menschen erst zwei Wochen brauchte, um wirklich runterzukommen, war Mexiko anders.  Nach einer Stunde war ich im Paradies. Eine kleine Wohnung mitten im Nichts. Palmen. Ein kleiner Laden. Straßenhunde. Nach einer kalten Dusche trat ich auf die Straße und lachte. Einfach so. Und hörte den Tag über nicht mehr auf. Alles löste sich. Wenn du selbst dein Problem bist, kannst du es in wenigen Sekunden im Kopf lösen. Wie lächerlich wirkte der Schmerz einer verlorenen Liebe, mit dem man sich ein Jahr lang jede Sekunde selbst gequält hat. Ich schwor mir, nie wieder mein eigener Feind zu sein. Ich würde mich nie wieder selbst davon abhalten glücklich zu sein. Nie wieder würde ich mich als einsamen Krieger definieren. In meinem Kopf waren emotionale Knalltüten wie Batman die Vorbilder. Jähzornige Männer, die auf einer Mission für das Gerechte, sich selbst und alle um sich verletzen. Nicht, dass die Rollenbilder für Mädchen eine emotionale Tiefe besaßen, aber dieser glorifizierte Stolz, den findet man bei männlichen Superhelden ohne jede Kritik.

Das einzige was ich noch verbissen machen wollte, war mich von all dem Müll zu befreien. Ich gründete eine Terrororganisation nur für mich. Die Jan Liberation Front. Das war wieder martialisch, aber als Manifest diente nun nicht Stolz und Wut, sondern Selbstliebe. Und das ist eins der wenigen Dinge, die man auf dieser Welt wirklich rücksichtslos angehen sollte. Wir wollen alle ein bisschen die Welt retten, aber es ist ok, wenn man erst mal nur einen Menschen retten, und es ist ok, wenn dieser Mensch jetzt ich war.
Ich entwarf sogar ein Logo für diese Befreiungsarmee. JLF. Mein zweites Tattoo.

001

Palmen statt Probleme

blogy

Alles kam zurück. Mein Humor, meine Abenteuerlust, meine Liebe zu allem Fremden, meine Sehnsucht und Hoffnung, mein Kampfgeist. Nicht schlecht für den ersten Tag. Die restlichen drei Monate verbrachte ich am Strand, in Hängematten, auf Ladeflächen von Pickups, auf Roadtrips durch die USA, in Bars mitten in Mexiko mit alten Freunden, tanzend am Strand mit neuen Freunden. Jeder Tag war ein Fest auf das Leben, für drei magische Monate. Es klingt abgedroschen, aber ich feierte mein Leben. Ein neues, zweites Leben. Und ich wusste: es gibt kein Zurück mehr in die Dunkelheit. Nie wieder. Ich verliebte mich am laufenden Band. In Strände, Fischerorte, Tequila, Frauen. Meine neu gefundenen Freunde konnten mir nicht glauben, dass ich mich vor wenigen Tagen durch den Schnee zu Therapiesitzungen geschleppt hatte, verzweifelt und wütend auf mich selbst.
Ich hatte keine Angst vor der Heimkehr. Pleite war ich jetzt erst recht, aber es war mir egal. Ich wusste, alles was ich brauche ist in mir, und mich nehm‘ ich überall mit hin, wie praktisch! Ich fing an, an Ein guter Plan zu schreiben. Alles was ich gelernt hatte, all meine Liebe und meine Lebensfreude, goss‘ ich in das Buch, und der Erfolg war beispiellos. Ich wusste, dass die Gefahr besteht, alte Verhaltens- und Denkmuster aufzugreifen, wenn ich wieder in meiner alten Umgebung war. Aber nun wusste ich was mir schadet. Statt überteuerter Drei-Zimmer-Wohnung zog ich in eine 13er WG. Der Kontakt zu Menschen, die mir schadeten wurde komplett eingestellt, Designanfragen lehnte ich gnadenlos ab.
Ich hatte nun eine Wunderwaffe: Selbstliebe. Und mein Schutzschild hieß angewandte Achtsamkeit. Ich nenne es Machtsamkeit. Weil man es machen muss und weil es Macht verleiht.

Glück ist eine Lawine

Denn jetzt wo ich mich traute, meine Wut loszulassen, eröffnete sich eine neue Welt der Möglichkeiten. Was sind meine Probleme? Was macht mich traurig? Ich konnte es jetzt offenherzig beleuchten, vorher unvorstellbar.
Das alles bedeutet nicht, dass ich nicht mehr traurig bin oder keine Probleme mehr habe. Aber die Trauer lähmt mich nicht mehr, sondern berührt mich. Probleme lassen mich nicht mehr verzweifeln, sondern ich kann an ihnen wachsen. Ich kann die Trauer und Wut erkennen, verstehen und umarmen. Selbstliebe war nun mein Kompass und Zuneigung anderer Menschen war nicht mehr eine Ersatzdroge, sondern einfach nur noch ein netter Bonus.
Und das bedeutet auch nicht, dass ich jetzt ein ganz zarter Typ bin, der vom Yoga zum Meditieren rennt. Im Gegenteil, ich bin stärker, selbstbewusster und durchsetzungsstärker als ich es jemals war. Meine Stärke ist nun echt und keine Fassade mehr.

Aber was kannst du nun aus meiner persönlichen Geschichte ziehen? Mexiko kann nicht die Antwort für alle sein und ich hoffe sowieso, dass du nicht so weit unten bist, wie ich es war. Im Endeffekt, ist es das, was wir bei Ein guter Plan immer wieder sagen:

  • Mach einen Schritt zurück, beleuchte dein Leben von allen Seiten
  • Halte inne, gerade wenn du nicht zufrieden bist, gerade in Stresssituationen
  • Trau‘ dich, dir diese paar Minuten am Tag zu nehmen um wirklich zu hinterfragen, ob deine Ziele und Werte wirklich die sind, die dir gut tun
  • Sag‘ dir nicht, dass alles schon irgendwie gut so ist, wenn es das nicht ist
  • Aber sage es dir immer wieder, wenn alles gut ist
  • Bleib aufmerksam, denn das Böse kommt schleichend und langsam
  • Sei selbstkritisch, aber mach den Kritiker in dir nicht zur größten Macht
  • Gib‘ dir den Freiraum, dich und dein Leben zu verändern
  • Verstehe, dass du dich nicht aufgibst, nur weil du deine Glaubenssätze über Bord wirfst, sondern dass du dadurch etwas in dir freilegst, was schon immer da war, aber sich nicht getraut hat heraus zu kommen

Mein drittes Tattoo ist bunt und ohne Kriegsmetaphern. Mit Blättern und Füchsen und so. Ich habe meinen Krieg hinter mir, meine Schlacht ist gewonnen. Gründe heute deine eigene Befreiungsarmee. Befreie dich von der Wut. Mach‘ kaputt was dich kaputt macht. Sei es auch ein Teil von dir.






Dies ist einer von zehn Gastartikeln aus Ein guter Plan 2017

Kategorien Best of Inspiration

über

Jan Lenarz ist Gründer und Geschäftsführer von Ein guter Plan. Er engagiert sich politisch für mentale Gesundheit und schreibt über Achtsamkeit, Depression und Burnout. Entspannen kann er trotz aller Expertise beim Thema Stressvermeidung am besten im Fitnessstudio und keiner weiß, was da schiefgelaufen ist. Jan arbeitet ehrenamtlich als Sanitäter und testet seine Gelassenheit z. B. im Rettungswagen auf den Straßen von Berlin.WebsiteInstagram

29 Kommentare zu “Von Geburt an wütend

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert